Deutsche Doppelmoral: Auf der documenta 15 herrschen andere Antisemitismus-Standards als in deutschen Kulturinstitutionen

Auf der documenta 15 trifft radikale Verspieltheit auf Exotismus. Doch seit Monaten ist das bestimmende Thema der Ausstellung: Antisemitismus. Zeit zu reden.

Rituelle Performance des haitianischen Kollektivs Atis Rezistans in der Kirche St. Kunigundis im Ostteil Kassels
Rituelle Performance des haitianischen Kollektivs Atis Rezistans in der Kirche St. Kunigundis im Ostteil KasselsFrank Sperling

Kunst zu interpretieren, argumentierte Susan Sontag in ihrem Essay „Against Interpretation“, bedeute, sie zu verarmen, zu entleeren. Eine „Schattenwelt von Bedeutungen“ zu errichten, der gegenüber Kunst sich fälschlicherweise behaupten müsse. Interpretation, so Sontag, sei die sprichwörtliche „Rache des Intellekts an der Kunst“.

Fast 60 Jahre nach Veröffentlichung des Essays wirkt es fast etwas klischeehaft, den Niedergang dessen zu bedauern, was Sontag ernsthafte intellektuelle Kultur nannte – im Gegensatz zu einer nur oberflächlichen, von der „Magie“ der Kunst abgelösten Hermeneutik. Dieses Klischee spiegelt sich zu einem Grad auch auf der documenta 15. In Form von Kunst, die in ihrer Beschaffenheit und Präsentation dem Kanon einer mit eurozentrischen Maßstäben wie Marktwert und Tradition operierenden Ästhetik etwas unapologetisch Einfaches, Verspielt-Naives, teils auch regelrecht amateurhaft Wirkendes entgegenstellt. Es ist Kunst, die gleichzeitig aber auch Sontags Schwärmerei von einer erosgetriebenen Sinnlichkeit relativieren würde. Hier in Kassel gibt es etwa Kunst zu sehen, die gar nicht so tut, als würde sie nicht kulturpolitischen Kämpfen entspringen, ja teils sogar in ihrem Dienst stehen.

Sontags Text legt sich aber auch in anderer Hinsicht wie ein Echo über das Psychodrama, das sich dieser Tage in Kassel abspielt. Ein Psychodrama, in dem bekanntlich einiges zusammenläuft: Debatten, die in den letzten Jahren immer wieder auf Kosten oder im Namen diskriminierter Gruppen – Jüdinnen, Palästinenser, Indonesierinnen etc. – ausgetragen wurden. Debatten, in denen sich immer wieder ein aufdringlicher Doppelklang aus Selbstverherrlichung und Selbstentlastung abzeichnete, der sich in den Ohren vieler Deutscher offenbar dennoch grundlegend richtig anfühlte.

Das abgebaute Triptychon von Taring Padi, das unter anderem auch ein eindeutig antisemitisches Bild zeigte
Das abgebaute Triptychon von Taring Padi, das unter anderem auch ein eindeutig antisemitisches Bild zeigtedpa/Uwe Zucchi

Es sind Debatten, in denen es fast immer ums Selbe geht: um Antisemitismus, Rassismus und Israel/Palästina, um historische Verantwortung und Erinnerungskultur, um die Grenzen von Pluralismus in Deutschland. Direkt oder indirekt, gewollt oder nicht, beschwören sie „Opferkonkurrenzen“. Eine grundlegende Unvereinbarkeit wird behauptet: zwischen Leidenserzählungen von Juden und Jüdinnen und denjenigen, die in letzter Zeit immer wieder – auf bis zur Sinnlosigkeit reduktive Weise – als Vertreterinnen des „globalen Südens“ tituliert werden. Anstatt also die – offenbar noch immer als Bedrohung gesehene – Möglichkeit zu antizipieren, dass es in den Erfahrungen genannter Gruppen Überschneidungen geben könnte, wirkten zahlreiche Kommentatoren in letzter Zeit wieder sehr bemüht, die vermeintlich unüberbrückbaren Unterschiede zwischen Antisemitismus und Rassismus zu zementieren.

Die documenta 15 wurde monatelang angefeindet

Gegen die documenta 15 wird bekanntlich seit Monaten polemisiert. Das indonesische Kollektiv ruangrupa und das palästinensische Kollektiv The Question of Funding stünden BDS und, daraus abgeleitet, Antisemitismus nahe, hieß es. Die Absage des Gesprächsforums „We need to talk“ war schwerlich anders interpretierbar denn als Armutszeugnis an einen sehr unsachlichen und letztlich destruktiven Diskurs über Antisemitismus und Rassismus. Dies spiegelte sich letztlich auch in Steinmeiers Eröffnungsrede, wo er „Leerstellen des postkolonialen Diskurses“ kritisierte sowie die Infragestellung des Existenzrechts Israels. Anstatt, was ja auch möglich gewesen wäre, die Leerstellen einer Kritik zu benennen, die das – auf der documenta nicht infrage gestellte – Existenzrecht Israels zum Definitionsmaßstab von Kunstkritik verkürzt.

Auf der documenta 15 sind, wie jetzt deutlich wurde, und entgegen Behauptungen von vielen Seiten, durchaus jüdische Künstler:innen vertreten. Auch in Israel geborene und teils dort lebende Künstler:innen gibt es auf der documenta 15, wobei letztere palästinensisch sind, nicht jüdisch. Das mag, wie die Journalistin Shany Littman bemerkte, damit zu tun haben, dass ruangrupas Anspruch, unterrepräsentierte und unterdrückte Kunst ins Zentrum zu rücken, im Falle Israels eben kein bloß geografischer ist. Sondern ein Anspruch, in dem sich ein ethnisch geprägtes Machtverhältnis spiegelt. Ob ruangrupas (bewusste oder unbewusste) Entscheidung, jüdische Israelis nicht einzuladen, falsch war – darüber lässt sich streiten. Antisemitisch motiviert scheint sie nicht.

Die Katastrophe jedoch, dass nach Monaten des Sprechens – beziehungsweise Schweigens, wo Sprechen wichtig gewesen wäre – über Antisemitismus tatsächlich ein antisemitisches Kunstwerk auf der documenta 15 auftauchte (das Werk „People’s Justice“ des indonesischen Kollektivs Taring Padi), schien unsachlichen Kritikern im Rückblick fatalerweise recht zu geben. Es erzeugte eine Situation, die inzwischen nicht mehr nur den Ruf der documenta-Leitung und ruangrupas beschädigt, sondern – weit darüber hinaus – auch den der jetzigen und vergangenen Kulturstaatsministerin.

Die Kunst auf der documenta 15 wirkt oft unapologetisch einfach, verspielt, teils auch ein bisschen amateurhaft
Die Kunst auf der documenta 15 wirkt oft unapologetisch einfach, verspielt, teils auch ein bisschen amateurhaftHanno Hauenstein

„People’s Justice“: Eine Atmosphäre mythischer Abwesenheit

Als ich vor knapp einer Woche am Friedrichsplatz in Kassel ankomme, sind von dem zunächst abgedeckten und letztlich komplett abgebauten Werk nur noch versprengte Stahlrohre übrig und ein paar eingewölbte Rasenabdrücke. Ungewollt wurde durch die Entfernung des Werks eine Atmosphäre mythisch aufgeladener Abwesenheit erzeugt, deren Außenwahrnehmung inzwischen interessanter wirkt als das Werk selbst: Vorbeigehende beäugen und fotografieren hier jetzt eine Stelle, wo sprichwörtlich nichts ist. Dort, wo einst das Werk stand, das unter anderem eine monströs-verzerrte Karikatur eines orthodoxen Juden mit SS-Insignien zeigte: ein – man muss es klar so benennen – eindeutig antisemitisches Motiv.

Das Thema überschattet vor Ort in Kassel derzeit alles. Jede zweite im Vorbeigehen aufgeschnappte Diskussion handelt hiervon. „Es ist kompliziert“, sagt ein Guide einer Schulführung, zwischen dem Ort, wo „People’s Justice“ stand, und der „Aboriginal Embassy“ – einer Zeltskulptur, die als Diskussionsort und „Botschaftsgebäude“ australischer Ureinwohnerinnen fungiert. „Um zu verstehen, was hier in den letzten Wochen passiert ist, müssen wir in unsere eigene, deutsche Vergangenheit blicken“, sagt er, „auf all das, was wir zu lang ignoriert haben.“

Das Zentrum der documenta 15: das sogenannte ruruHaus am frühen Morgen
Das Zentrum der documenta 15: das sogenannte ruruHaus am frühen MorgenNicolas Wefers

Am documenta-Standort Hallenbad Ost steht ein Pärchen vor einem anderen Kunstwerk des Kollektivs Taring Padi, die diesen Raum hier bespielen und in der Regel mit Tiermotiven arbeiten: „Ob das wohl 33 oder 38 Schweine sind?“, fragt er seine Partnerin. Ich beobachte, wie die beiden tatsächlich die Schweinsfiguren im Bild zählen – wohl aus dem Gedanken heraus, dass deren Anzahl womöglich auf eine historisch-symbolträchtige Zahl deuten könnte. Die Kunstrezeption auf der documenta 15 ist so längst zum Symbol dessen geworden, was die Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick in einem legendären Essay mal „paranoid reading“ genannt hat. Verständlich, ja, natürlich. Bisweilen, mit ein bisschen Distanz betrachtet, aber auch etwas komisch mitanzusehen.

Am selben Tag, an dem ich nach Kassel reise, sind so gut wie alle Veranstaltungen im documenta-Programmplan auf einen Schlag abgesagt worden. „Wegen Covid“, sagt eine Mitarbeiterin im ruruHaus, dem Herzstück der documenta 15, wo ruangrupas kollektive „lumbung“-Praxis erfahrbar werden soll. „Wirklich?“, frage ich, „wegen Covid?“ – „Nicht wirklich“, antwortet sie, „hast du aber nicht von mir.“

Strafbares Verhalten wegen Kunstwerken

Inzwischen prüft die Kasseler Staatsanwaltschaft, ob bei einzelnen Kunstwerken dieser documenta 15 ein Verdacht auf „strafbares Verhalten“ vorliegen könnte. Die Prüfung bezieht sich neben „People’s Justice“ auch auf die Bildserie „Guernica Gaza“ des palästinensischen Künstlers Mohammed Al Hawajri.

Die Bildserie wird rechtlich geprüft, weil sie „Guernica Gaza“ heißt und – unter anderem – Bombeneinschläge zeigt. Der bloße Verdacht eines durch den Titel angedeuteten Vergleichs der in Picassos Werk „Guernica“ abstrakt dargestellten NS-Bombardierung mit den israelischen Luftangriffen auf Gaza überwiegt in den Augen der Staatsanwaltschaft offenbar gegenüber dem eigentlich sehr nachvollziehbaren Versuch des Künstlers, Kriegserfahrungen kreativ zu verarbeiten. Hätte man den gleichen Vorwurf gegenüber einem ukrainischen Künstler erhoben, hätte er sein Werk „Guernica Odessa“ genannt? Wohl kaum. Dies ist tatsächlich so ein Fall, wo man am liebsten „Against Interpretation!“ rufen möchte.

Bildserie „Guernica Gaza“ des palästinensischen Künstlers Mohammed Al Hawajri in den Räumen des Kollektivs The Question of Funding.
Bildserie „Guernica Gaza“ des palästinensischen Künstlers Mohammed Al Hawajri in den Räumen des Kollektivs The Question of Funding.Nils Klinger

Unten im Vorgarten des WH22 treffe ich Yazan Khalili von Question of Funding. Khalili sagt, er wolle gar nicht mehr in Deutschland ausstellen: „Ich habe nicht das Gefühl, dass hier ein Ort ist, wo man ausstellen kann, ohne von Medien und Politik verleumdet zu werden.“ Khalili wirkt etwas angeschlagen und fahrig, er habe hier in Kassel jetzt Angst um die Sicherheit seines Sohns. Der sitzt in dem Gespräch neben ihm, guckt Netflix. Dass auf „People’s Justice“ eine antisemitische Darstellung zu sehen war, verurteilt Khalili. Man müsse aber auch im Blick behalten, dass es so etwas wie ein völlig „unschuldiges“ Kunstwerk einfach nicht gebe.

Die documenta-Leiterin Stefanie Schormann hatte der HNA kurz nach der Kritik an „People’s Justice“ ein Interview gegeben, in dem sie sagte, dass es auch in den von The Question of Funding kuratierten Räumen Werke gebe, die jetzt seitens documenta-Leitung „in der Diskussion“ seien. Schormann habe das dem Kollektiv vorab nicht kommuniziert, betont Khalili. Er und die Kollektiv-Mitglieder hätten es aus den Medien erfahren. Vor knapp einem Monat gab es einen Vandalismus-Fall in den von The Question of Funding kuratierten Räumen: Graffitis, deren Symbolik von einigen als Morddrohung interpretiert wurden. Khalili fühlt sich von der documenta-Leitung verraten, nicht hinreichend geschützt.

Antisemitismus auch in Museen & Gotteshäusern

Mit einer gesteigerten Aufmerksamkeit für Antisemitismus durch Kassel laufend, fragt man sich zeitweise, wie denjenigen, die am Eröffnungswochenende das antisemitische Bild im Taring-Padi-Triptychon entdeckten, manch anderes entgehen konnte. So hängen in der Stadt verteilt etwa viele Plakate, die eine Reihe der österreichischen Komikerin Lisa Eckart bewerben, die hier noch bis 12. Juli läuft. Eckart war in den letzten Jahren durch antisemitische Witze aufgefallen. Ein humoristischer Bruch war – wenn überhaupt – nur schwer erkennbar.

Im Kasseler Museum für Sepulkralkultur findet sich in der nicht zur documenta gehörenden Ausstellung eine Figur namens „Der Tod und der Jude“. Auf einem kleinen Textstück am Sockel der Figur wird der Mythos vom Jesusmord wiederholt. Nebenan, in der Grimmwelt, finden sich Darstellungen der antisemitischen „Rumpelstilzchen“-Figur, daneben ein Bild eines „Allsehenden Auges“, das in zahlreichen Verschwörungstheorien vorkommt, darüber eine Karikatur von Mark Zuckerberg. Während ich diesen Text schreibe, beschließt der BGH, dass die antisemitische Schmähplastik an einer Wittenberger Kirche nicht entfernt werden muss. Derartige Plastiken hängen teils seit Jahrhunderten unkommentiert an den Kirchenfassaden mehrerer deutscher Städte.

„Der Tod und der Jude“ – unkommentierte Figur im Museum für Sepulkralkultur in Kassel
„Der Tod und der Jude“ – unkommentierte Figur im Museum für Sepulkralkultur in KasselHanno Hauenstein

Wieso denn eigentlich? Sind antisemitische Bilder und Anspielungen „okay“, solange sie in deutschen Kulturinstitutionen beziehungsweise an den Außen- und Innenfassaden christlicher Gotteshäuser oder – in Form von Karikaturen – in deutschen Tageszeitungen gezeigt werden? Nein, Antisemitismus ist nicht „okay“. Das Mindeste wäre, diese Bilder kommentierend einzubetten.

Diskussionen über Rassismus in der Kunst werden demgegenüber übrigens oft schlichtweg abgewunken. Vor knapp zwei Jahren wurde etwa ein Gemälde des Künstlers Georg Herold, welches das N-Schimpfwort im Titel trägt und eine vom weißen Künstler Herold in so gut wie jeder Hinsicht rassistisch gezeichnete Gestalt zeigt, die mit einem Ziegelstein beworfen wird, im Frankfurter Städel Museum ausgestellt. Das war in jenem Sommer 2020, als auch in Deutschland ein Umdenken zu beginnen schien, was Alltagsrassismus und koloniales Erbe betrifft.

Als Forderungen laut wurden, das Bild abzuhängen, beklagte Hans-Joachim Müller in der Tageszeitung Welt, eine neue Generation Kritiker hätte „alle Sensibilität für die Tiefe“ verloren – sowie den nötigen „Scharfblick“. Zur documenta 15 schrieb derselbe Autor anderthalb Jahre später, im Januar 2022: Die Ausstellung solle „erst gar nicht eröffnen“, sollte es ruangrupa nicht gelingen, sich „von den Israel-Boykottierern zu distanzieren“. In Deutschland scheint das normal zu sein: Auf der einen Seite verbucht man faktisch in Kunst ausgedrückte Diskriminierung einer Minderheit als Unteraspekt künstlerischer Freiheit – auf der anderen skandalisiert man vermeintliche Diskriminierung, selbst wenn sie, wie zum Zeitpunkt des Erscheinens des Texts, faktisch nicht belegt ist.

Offene Gespräche über Antisemitismus und Kunst

Ich laufe die Anhöhe des Grimm-Museums zur documenta-Halle, einem der Hauptausstellungsorte der documenta 15. Eine Halfpipe samt Skateboards ist hier neben einer kollektiven Druckerpresse aufgebaut. Das Ganze erinnert in seiner improvisierten Leichtfertigkeit ein wenig an Sonntagsflohmarkt in Prenzlauer Berg. Oder ans Kunsthaus Tacheles an der Oranienburgerstraße, bevor es zu Luxuswohnkomplexen umgebaut wurde.

Unweit der Kunsthalle steht eine kleine Holzbühne mit Küche. Auf ihr hat sich jetzt eine Gruppe von circa 25 Leuten zum Gespräch zusammengefunden. Hier sitzen Vertreter:innen von ruangrupa und anderer Kollektive neben Kasseler Bürgern und Personen, die von Indonesisch zu Englisch und von Englisch zu Deutsch übersetzen. Die Gesprächsreihe hat den Vibe hierarchiefreien Dialogs, wie man ihn den Occupy-Wall-Street-Protesten von 2011 nachsagte. Das ruangrupa-Konzept der kollektiven Suchbewegung scheint hier erstmals wirklich aufzugehen. Die Teilnehmenden bekommen jetzt Zettel in die Hände gedrückt, darauf drei Fragen: „Was ist Ihr Lieblingsessen?“ /  „Was ist Ihre Meinung zu jüngsten Ereignissen auf der documenta 15?“ / „Was schlagen Sie vor?“

Workshop mit Vertreter:innen des indonesischen Kollektivs ruangrupa und der künstlerischen Leitung der documenta 15
Workshop mit Vertreter:innen des indonesischen Kollektivs ruangrupa und der künstlerischen Leitung der documenta 15Nicolas Wefers

Neben mir steht ein Deutscher aus Kassel. Er ruft seine Antwort auf die zweite Frage direkt in die Runde: „Zensur im Auftrag des israelischen Zionismus!“ Mich schaudert, als ich das höre. Immerhin handelt es bei der Demontage des Kunstwerks von Taring Padi nicht um „Zensur“. Sondern um die zwar streit-, aber doch durchaus nachvollziehbare Konsequenz aus einem Fehler der Leitung documenta-Leitung und des Kurator:innen-Teams, „People’s Justice“ in jener Form gezeigt zu haben. Klar ist auch, dass die Demontage natürlich nicht erst „im Auftrag“ Israels veranlasst wurden musste.

„Wir waren alle komplett schockiert“, sagt ein Vertreter eines tunesischen Kollektivs über das Bild von Taring Padi.

„Die Entschuldigung des Kollektivs war mir aber auch zu opportunistissch“, antwortet eine Kasseler Bürgerin, „ihr kommt doch alle aus verschiedenen Ländern, ihr könnt gar nicht den nötigen Background haben, um den deutschen Kontext zu verstehen.“ Okay, denke ich, der deutsche Kontext. Das ist natürlich sensibel. Gleichzeitig schwingt hier aber auch eine merkwürdige Annahme mit: als sei „People’s Justice“ nur hier in Deutschland antisemitisch. Als seien Antisemitismus – wie Rassismus – keine grenzübergreifenden Formen von Menschenfeindlichkeit.

Der teils exotisierende und infantilisierende Blick auf die Kollektive des sogenannten globalen Südens geht auf dieser documenta 15 offenbar in beide Richtungen: in Form einer Verurteilung – wie in Form einer Verteidigung. Meine in die Runde gestellte Frage, was ruangrupa selbst eigentlich unter „globalem Süden“ verstehen, ob sie sich mit dem Begriff überhaupt identifizieren können, bleibt vorerst unbeantwortet.

Eine Arbeite von Atis Rezistans in der Kirche St. Kunigundis im Ostteil der Stadt – die „Ghetto Biennale“
Eine Arbeite von Atis Rezistans in der Kirche St. Kunigundis im Ostteil der Stadt – die „Ghetto Biennale“Hanno Hauenstein

Kunst-Highlights der documenta 15

Neben all den Debatten gibt es auch künstlerische Highlights auf dieser documenta zu sehen. Ein solches Highlight sind die Arbeiten von Atis Rezistans in der Kirche St. Kunigundis im Ostteil der Stadt – die selbst betitelte „Ghetto Biennale“. Die in der Kirche angebrachte Deckeninstallation spiegelt die Geometrie der Straßen im haitianischen Port-au-Prince. Bläuliche Spiegelfiguren, in luftdichten Wassergläsern akzentuierter Straßenabfall und merkwürdig-schillernde Lichtinstallationen hinter Kerzenlicht kontrastieren auf herrlich-verspielte Weise das Altarhaft-Religiöse der Wandmalereien und Bleiglasfenster mit dieser queeren und sehr direkten Kunst von Atis Rezistans.

Ein anderes Highlight findet sich am Komposthaufen im Park: ein Beitrag der Gruppe La Intermundial Holobiente. Ihre Protagonistinnen versuchen, inmitten der fruchtbaren Erde herauszufinden, wie die Dinge der Welt zusammenhängen. Ein regelrecht metaphysisches Unterfangen: In einem Bauwagen stellt die Gruppe ihr „Book of the Ten Thousand Things“ vor. Ein Buch, so sagen sie, über die menschliche Vorstellungskraft, jedoch von einer nichtmenschlichen Entität verfasst. Die „Einträge“ auf den Buchseiten bleiben leer. Sie werden durch die drumherum gruppierten Fußnoten der Kollektivmitglieder als solche sichtbar. Über dem Bauwagen spannt sich ein lebensgroßes Bild des Waldes auf einer Stoffbahn vor den Baumwipfeln des echten Waldes im Hintergrund. Wenn man lange genug hinguckt, überlappt sich hier die Mimesis mit dem Original – wie eine versinnbildlichte „zweite Natur“.

Es gäbe viel mehr über die Kunst auf der documenta 15 zu sagen. Über die Stärken und Schwächen der Kuration. Letztere, so wirkt es, haben oft auch mit fehlender Vermittlung der Leitung zu tun. Zurück im Hotel denke ich, dass es nach den letzten Wochen wohl noch dauern wird, bis so ein Gespräch wirklich möglich wird. Vielleicht sollte man die Kunst in Kassel jetzt erstmal wirken lassen – anstatt zu versuchen, sie weiter einzuhegen und zu interpretieren. Das Sprechen, der kritische Dialog, das Verantwortung-Übernehmen, all das, was mit einer öffentlichen Diskussion am Mittwoch in Ansätzen bereits begonnen hat, müssen wir dagegen sehr aktiv angehen. Andernfalls laufen wir womöglich Gefahr, diese documenta – in direkter Umkehrung von Susan Sontags Warnung – zur Rache der Kunst am Intellekt werden zu lassen.

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