Deutsche Schuld? Schon wieder?

Haben wir zu lange rituell die deutsche Kriegsschuld bearbeitet und auf naive Weise neue aufgehäuft? Eine Erinnerung.

Auf einem Friedhof bei Charkiw wurden Gedenktafeln auf einem Massengrab angebracht.
Auf einem Friedhof bei Charkiw wurden Gedenktafeln auf einem Massengrab angebracht.AP

Seit ein paar Wochen wird die Frage nach der deutschen Schuld ganz neu gestellt. Haben wir mit Blick auf die Ukraine neue Schuld aufgehäuft, weil wir zu lange rituell die alte bearbeitet haben?

Vor ein paar Tagen begegnete mir im Traum mein Vater. Er war operiert worden und rief mir etwas Unverständliches zu. Es ist durchaus naheliegend, dass mein Vater 30 Jahre nach seinem Tod durch meine Träume geistert. Die Friedhofsverwaltung des Ortes, an dem ich aufgewachsen bin, hat uns darüber in Kenntnis gesetzt, dass die Grabstätte im Sommer erlischt. Wir haben beschlossen, den Familiengrabstein nach Berlin zu holen, wo unsere Mutter beerdigt ist.

Väter, Söhne und die Geschichte

Eine Familiengeschichte? Nicht nur. Mein Vater war 26, als er in die Wehrmacht eingezogen und kurz darauf in den Krieg geschickt wurde. Er, von Beruf Molkereimeister, erwarb den Rang eines Gefreiten. Mit 36 kehrte er aus russischer Gefangenschaft zurück, zehn Jahre seines Lebens ein missing link. Aber natürlich waren sie ein Teil seiner, ein Teil unserer Geschichte. Man könnte die Traumsequenz als generationsspezifisches Misslingen der Kommunikation zwischen Vätern und Söhnen deuten, aber so war es nicht. Er hat immer wieder versucht, über seine Erlebnisse zu berichten. Wir wollten nicht. Fußball, Pop, Reisen, für uns gab es Wichtigeres. Als wir mit 16 oder 17 per Interrail in andere Länder aufbrachen, winkte er ab. Er sei lange genug in der Fremde gewesen. Trauma? Hass auf die Russen? Eher nicht. Die hatten auch nichts, lautete wiederholt seine knappe Erklärung, wenn die Rede auf die Verhältnisse im Gefangenenlager kam.

War er an Verbrechen der Wehrmacht beteiligt? Wir wissen es nicht. Mein älterer Bruder erinnert sich an ein Gespräch über das Massaker von Katyn, ein Dorf, etwa 20 Kilometer entfernt von Smolensk, wo über 4000 polnische Gefangene in einem Waldstück erschossen wurden. Das waren wir nicht, hatte mein Vater beteuert, lange bevor historisch als gesichert galt, dass die Ermordungen vom sowjetischen NKWD und nicht von der Wehrmacht begangen worden waren. Über Gräbern weht der Wind, heißt es in dem Lied „Sag mir wo die Blumen sind“. Heute wieder. Dabei erzeugen die alten noch unruhige Träume.