Gendern an Schulen: Das Gericht stellt eine tausendjährige Sprachgeschichte infrage
Wie der Berliner Linguist Peter Eisenberg das Urteil zur Verwendung von Gendersprache an Schulen kommentiert. Ein Interview.

Ein Vater aus Berlin ist vor dem Verwaltungsgericht mit einem Eilantrag gescheitert, mit dem er sogenannte genderneutrale Sprache an den Gymnasien seiner beiden Kinder verbieten lassen wollte. Er will nun in die nächste Instanz gehen. Der Berliner Linguist Peter Eisenberg erklärt, warum er dieses Urteil für ein Fehlurteil hält.
Herr Eisenberg, was sagen Sie als Sprachwissenschaftler zu dem Gerichtsurteil über die Verwendung von Gendersprache an Berliner Schulen?
Der Vater zweier Kinder in oberen Klassen von Berliner Gymnasien hat geklagt, weil er das Elternrecht durch den Sprachgebrauch in den Schulen verletzt sieht. Das Gericht hat sein Klagerecht – anders als die Schulbehörde – anerkannt, die Klage aber abgewiesen. In der Urteilsbegründung nimmt das Gericht ausführlich zur Verwendung einer gegenderten Sprache in der Schule Stellung. Diese Ausführungen des Gerichts können die öffentliche Debatte voranbringen, auch wenn wir wissen, dass es primär um individuelle Rechte des Vaters als Kläger geht.
Welchen Status hat die gendergerechte Sprache an den Berliner Schulen, wer kann sie zulassen oder verbieten?
Soweit es um Orthografie geht, ist zweifelsfrei der Rat für Rechtschreibung zuständig. In dessen Statut heißt es, die Vorschläge des Rates „erhalten durch Beschluss der zuständigen staatlichen Organe Bindung für Schule und Verwaltung“. Schule und Verwaltung sind also an die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung gebunden. Der Rechtschreibrat hat mehrfach festgestellt, Genderstern, Unterstrich usw. seien nicht Teil der deutschen Orthografie. Die wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages drücken es so aus: „Die amtliche Regelung der deutschen Rechtschreibung ist die verbindliche Grundlage des Unterrichts an allen Schulen. Dies gilt auch für Privatschulen.“ Beamte und Angestellte des Bundes und der Länder hätten deshalb im amtlichen Schriftverkehr das Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu beachten.
Was, wenn der Lehrer eine Mail schreibt, in der es heißt: „Liebe Elternvertreter*innen ...“ oder den Genderstern in einem Arbeitsblatt verwendet?
Da sind Sie genau bei der Frage, die für die Kammer des Gerichts am wichtigsten war. Man muss der Kammer zugestehen, dass sie sich mit vielen Aspekten der Frage, was die Schule darf und was nicht, ausführlich beschäftigt hat. Und dann hat sie darüber ein Fehlurteil gefällt.
Noch mal zur Verwendung des Gendersterns in der Kommunikation der Lehrer mit den Eltern oder in Unterrichtsmaterialien.
Der Unterricht und der dienstliche Schriftverkehr sind auf die amtliche Rechtschreibregelung gegründet. Die hat Vorschriftcharakter. Nun kann man sich fragen, was zum amtlichen Schriftverkehr gehört und was nicht, und das tut das Gericht ausführlich. Es kommt zu dem Schluss, dass vieles, was in der Schule geschrieben wird, nicht dazu gehört, etwa Lehrmaterialien und Arbeitsblätter sowie schriftliche und elektronische Kommunikation innerhalb der Schule und nach außen gerichtet, insbesondere in Elternbriefen und E-Mails an die Schüler und die Elternschaft. Und daraus wird dann die These, eine Mail, die sich an Elternvertreter*innen richtet, sei nicht zu beanstanden.
Heißt das, dass das Gericht die klare Regel nicht infrage stellt, sondern einfach befindet, man müsse diese nicht auf alles anwenden?
Genau. Und zwar auf sehr vieles nicht. Aber wenn es heißt, der Unterricht sei auf die amtliche Rechtschreibung gegründet, Unterrichtsmaterialien jedoch Gendersprache verwenden dürfen, muss man sich fragen, welchen Sinn eine amtliche Regelung noch hat. Hier findet eine Spaltung statt. Der Direktor eines der beiden Gymnasien, das ein Kind des klagenden Vaters besucht, hat den Lehrern ausdrücklich freigestellt, gegenderte Sprache zu verwenden und gleichzeitig festgestellt, im Übrigen gelte die amtliche Regelung. Das ist ein Verhalten, das man immer wieder findet. An der Freien Universität hat der Präsident, nachdem ihm mehrfach nahegebracht worden ist, das Studentenparlament gendere, keine Maßnahmen ergriffen, sondern einfach auf die Geltung der amtlichen Regelung hingewiesen. Damit ist er aber nicht aus dem Schneider.

Auszeichnungen: 2008 erhielt Peter Eisenberg für seine Verdienste um die deutsche Grammatik den Konrad-Duden-Preis, 2015 erhielt er den Sigmund-Freud-Preis für wissenschaftliche Prosa und 2019 den Jacob-Grimm-Preis Deutsche Sprache für seine „herausragenden Leistungen zur Erforschung der deutschen Grammatik“.
Das ist doch ein Widerspruch, oder?
Das ist ein Widerspruch in sich. Leibniz würde sagen: Es gibt keine Welt, in der beides gleichzeitig wahr sein kann. Der Direktor hat nicht das Recht, die amtliche Regelung zur Rechtschreibung in vielen Bereichen des Schuldienstes außer Kraft zu setzen. Er ist Dienstvorgesetzter und als solcher verpflichtet, sich an die amtliche Regelung zu halten. Er ist auch verpflichtet, sie in seinem Verantwortungsbereich durchzusetzen. Deshalb ist vieles, was in der Urteilsbegründung steht, rechtswidrig. Der Schulleiter maßt sich ein Recht an, und die Kammer gesteht es ihm zu. Ich sehe keine Möglichkeit, den dienstlichen Schriftverkehr in der Schule so weit von der amtlichen Regelung zu entfernen, wie das hier vom Gericht akzeptiert wird. Hätte ich ein Gutachten zu schreiben, würde ich das genauso formulieren und ausführlich begründen. Das Gericht vergaloppiert sich. Dem Vater ist von der Schulbehörde ja sogar die Klageberechtigung abgesprochen worden. Dabei klagt er letztlich ein Recht der Sprachgemeinschaft ein. Er kämpft für alle Sprecher des Deutschen.
Wie kommt es dann zu diesem Gerichtsurteil?
Es ist ideologisch. Das Gericht stellt eine tausendjährige Sprachgeschichte infrage, die dazu geführt hat, dass das Deutsche heute eine Allgemeinsprache ist, zu den großen Sprachen der Erde gehört und über eine Norm verfügt, die nach modernem sprachwissenschaftlichen Verständnis nichts anderes ist als die Festschreibung des allgemeinen Sprachgebrauchs. An dem orientiert sich die Norm und mit ihm kann sie sich verändern. Die Befürworter der Gendersprache haben eine derartige Legitimierung nicht, schon weil eine erdrückende Mehrheit der Sprecher gegenderte Sprache ablehnt.
Könnte es sich bei der Gendersprache nicht um eine Weiterentwicklung der Sprache handeln, wie sie immer schon passiert ist?
Nein, und das ist unter Sprachwissenschaftlern auch unumstritten, wenn sie nicht ideologisch eingemauert sind. Die Einführung von Gendersprache wäre ein Bruch in der Sprachentwicklung, der einen völlig anderen Charakter hätte als das, was wir unter Sprachwandel verstehen. Es ist eine Anmaßung, auf eine Sprache wie das Deutsche loszugehen und zu sagen, wir haben jetzt das Recht. Wir wissen, welche Art von Sprachwandel für die Gesellschaft gut ist.
Gendergerecht klingt doch aber gut, oder?
Ja, das ist geradezu ein terminologischer Trick. Damit kann man diejenigen, die sich dagegen aussprechen, als Gegner von Geschlechtergerechtigkeit anklagen.
Ist diese Sprache nicht gendergerecht?
Da müssen wir nun doch über den Begriff Gender reden. Begrifflich unterschieden werden meist Sexus, also das biologische Geschlecht weiblich und männlich, Genus, das grammatische Geschlecht feminin, maskulin, sächlich, und soziales Geschlecht Gender, für das es keine einzelnen Begriffe gibt. Was also genderneutral heißt, muss genau erklärt werden. Es wäre eine Sprache, die niemanden sozial benachteiligt oder bevorteilt. Sprachliche Indikatoren können nur Genus und Sexus sein. Eine plausible Herleitung wird meistens aber gar nicht versucht. Auch das Gericht drückt sich und verwendet einfach den Begriff Genderneutralität. Nehmen wir eine Form wie Lehrer*innen, also eine Pluralform. Ihr Singular ist Lehrer*in. Und nun setzen sie mal im Singular einen Artikel davor. Sie erhalten etwas wie der/die Lehrer*in – damit wird alles unklar und kompliziert, denken Sie nur einmal an den Genitiv des Lehrers/der Lehrer*in. Das Gericht sagt einfach, die genderneutrale Sprache sei ohne Weiteres für alle verständlich. Der Rechtschreibrat sagt das Gegenteil, nämlich, dass gegenderte Texten erhebliche Verständnisprobleme bereiten, die gerade schwache Schreiber und Leser treffen. Lerner, Migranten usw. Von Genderneutralität ist absolut gar nichts zu sehen.
Es gibt aber auch Linguistinnen, die sagen, das generische Maskulinum rufe vor allem männliche Geschlechtsvorstellungen hervor. Daher kommt ja dieses Streben nach einer geschlechtergerechten Sprache.
Es gibt zwei Konzeptionen von geschlechtergerechter oder nicht diskriminierender Sprache. Eine ist, alle relevanten Gruppen zu nennen. Und dann wird behauptet, der Genderstern leiste eben dies. Alle seien mitgemeint. Die linguistische Reaktion darauf ist ganz einfach: Der Genderstern bezeichnet nichts. Er ist ein sprachfremdes Symbol ohne Inhalt. Das andere Konzept, sprachliche Diskriminierung zu vermeiden, besteht in der Verwendung von Ausdrücken, die kein grammatisches Geschlecht haben und deshalb auch nicht an ein bestimmtes natürliches Geschlecht gebunden sind. Das heißt, wenn wir uns über Gender oder über natürliches Geschlecht Gedanken machen, dann müssen wir schauen, was die Sprache wie realisiert. Und die einzige Möglichkeit, die das Deutsche hat, Substantive zu verwenden, die strukturell nicht geschlechtsgebunden sind, ist das generische Maskulinum. Das ist die unmarkierte Genuskategorie, die ohne das Merkmal Geschlecht verwendbar ist.
Das sagen Sie.
Es gibt Verwendungsweisen des Maskulinums, die geschlechtsneutral sind. Wenn jemand sagt, „Die Mehrheit der Berliner Richter sind Frauen“, denkt niemand an Männer, sondern an den Richterberuf und der ist geschlechtsneutral. Oder finden Sie es besser, wenn man sagt, „Die Mehrheit der Berliner Richterinnen sind Frauen“?
Wundert es Sie, dass darüber so vehement gestritten wird?
Es wundert mich nicht. Es geht viel zu oft um politische und persönliche Macht. Trotzdem: Die Einheitssprache ist und bleibt unheimlich wichtig. Sie führt dazu, dass eine normal gebildete Person aus Passau die Berliner Zeitung ebenso lesen kann wie jemand aus Flensburg. Das kann man gar nicht hoch genug bewerten. Wenn das Sternchen in die Norm eingeht, also zugelassen und vorgeschrieben wird, dann gibt es ähnliche Verunsicherungen wie bei der Orthografiereform, nur viel schlimmer. Ich selbst ging bisher als alter Knacker durch die Welt, zukünftig aber vielleicht als alter Knackender. Wenn das nichts ist.
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