Der große Philosoph Ernst Tugendhat ist mit 93 Jahren gestorben

Er stammte aus einer reichen Familie in der Tschechoslowakei, floh vor den Nazis, bewunderte Heidegger und holte ihn vom Olymp. Zum Tod von Ernst Tugendhat.

Der Philosoph Ernst Tugendhat (1930–2023)
Der Philosoph Ernst Tugendhat (1930–2023)dpa

Die grundlegende Frage der Philosophie fand er in einem Dialog des großen griechischen Denkers Platon. In dessen „Politeia“ steht sie und beschäftigt die Menschen bis heute und wohl auch bis in alle Ewigkeit: „Wie soll ich leben?“ Für Ernst Tugendhat durchzieht die Suche nach einer Antwort auf diese Fundamentalfrage die gesamte Philosophiegeschichte. Nicht nur die Philosophie von Platon und Sokrates sei von ihr ausgegangen – auch ihre Nachfolger seien durch diese Frage in eine besondere philosophische Unruhe versetzt worden. Es ist der Sinn des Lebens, nicht der Sinn des Seins, um den es geht, befand er, anders als sein früherer Lehrer, der berühmte Martin Heidegger. Der hatte in „Sein und Zeit“ mit revolutionärem Pathos erklärt: In der Philosophie gehe es zuallererst um den Sinn von Sein.

Tugendhats letzte Bücher befassten sich mit Religion, mit Mystik, dem Ich – und mit dem Tod. Sein Bruder hatte vor vielen Jahren Suizid begangen. Das hatte ihn sehr geprägt. Für sich selbst wollte er das nicht ausschließen. Tugendhat war ein nachdenklicher und tief reflektierter Mensch, der ein bewegtes Leben hinter sich hatte.

Er entstammte einer der reichsten Familien der Tschechoslowakei. Seine Eltern hatten die Villa Tugendhat, heute Weltkulturerbe, von Mies van der Rohe bauen lassen. Man kann das Haus als Museum besichtigen. 1930 wurde Ernst Tugendhat geboren. Er und seine Familie verbrachten aber nur acht Jahre in dem faszinierenden Bau. Dann musste die jüdische Familie vor den Nationalsozialisten fliehen, die Nazis waren in die Tschechoslowakei eingerückt. Es ging in die USA und nach Südamerika. Tugendhat war ein brillanter Schüler und ein herausragender Student. Im Alter von 16 Jahren erhielt er von seiner Mutter ein besonderes Geschenk: das Buch „Sein und Zeit“ von Heidegger. 

Heidegger sprach von einer Fundamentalontologie, davon, den Menschen in seinem Sein begreifen zu müssen, bevor man überhaupt einen Schritt weiter machen könne in der Philosophie. Heidegger wirbelte mit Wörtern wie In-der-Welt-sein, Vorhandenheit, Zuhandenheit, Existenzialien, Dasein, Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit herum.

Ernst Tugendhat war so begeistert, dass er beschloss, so schnell wie möglich nach Deutschland aufzubrechen, um bei diesem Meisterdenker zu studieren. Das Studium absolvierte Tugendhat dann noch in Stanford, doch 1949 kehrte er nach Deutschland zurück und besuchte Heideggers Seminare, ohne von dessen Verstrickungen in der NS-Zeit zu wissen. Die frühe Rückkehr nach Deutschland wegen Heidegger sollte ihn später reuen. „Dass das ein sehr fragwürdiger Schritt war, ist mir erst sehr viel später bewusst geworden“, erinnert sich der jüdische Denker, der dies später als übereilte Versöhnungsgeste empfand.

Die Dissertation Tugendhats war noch tief vom Geiste seines Meisters geprägt. Die Kategorienlehre von Aristoteles wurde im Lichte von dessen Existenzialontologie interpretiert. Tugendhats Habilitationsschrift „Der Wahrheitsbegriff bei Husserl und Heidegger“ holte Heidegger dann vom Olymp der Denker herunter. Tugendhat wies Heidegger nach, mit dem Begriff der Entschlossenheit dem Wahrheitsbegriff jeglichen Sinn entzogen und damit eine unhaltbare Theorie aufgestellt zu haben. Heidegger, der große Guru der damaligen Philosophie, sah dies sogar ein, was zu einer selten bei ihm vorkommenden Selbstkritik führte. Tugendhats Name blieb dabei indes unerwähnt. Dieser löste sich schließlich von der Existenzialontologie Heideggers und ging seinen eigenen Weg, fortan war er ein Solitär in Deutschland. Als er später gefragt wurde, ob er gar nichts entdecken könne, mit dem Heidegger die Philosophie vorangebracht habe, sagte er nur: „Eine gute Frage.“ Nach längerem Schweigen lautete sein Urteil: „Nein, da kann ich nichts finden.“

Tugendhat zählt zweifellos zu den bedeutendsten Philosophen hierzulande. Er hat in den geistigen Kraftzentren Deutschlands gewirkt: in Münster, in Heidelberg oder später in Berlin an der Freien Universität. Mit seinem Freund Jürgen Habermas arbeitete er am Max-Planck-Institut in Starnberg. Besonders drei seiner Bücher haben die philosophische Landschaft nachhaltig geprägt. Seine Werke über Ethik, das Selbstbewusstsein und die Sprachphilosophie zählen zum Kanon deutscher Geistesgeschichte. Seine im Suhrkamp-Verlag publizierten „Vorlesungen zur Einführung in die sprachanalytische Philosophie“ ebneten der sonst so verpönten analytischen Philosophie in Deutschland den Weg.

In glasklaren Schritten hat Tugendhat gezeigt, dass die Grundfragen der Philosophie eben nicht nur in den traditionellen Großentwürfen der Metaphysik, der Ontologie oder der Erkenntnistheorie beantwortbar sind. Die Reflexion auf die Strukturen der sprachlichen Verständigung über die Welt ist vielmehr die neue Fundamentalwissenschaft.

Ernst Tugendhat hat nicht nur philosophiert, sondern ebenso sehr politisiert, demonstriert, gestritten. Am Montag ist er im Alter von 93 Jahren in Freiburg gestorben. Mit ihm verliert Deutschland einen seiner großen Denker.