Proteste in Russland: Eine Frau hält ein weißes Schild hoch und wird abgeführt

Die Szene spielte sich in Nischni Nowgorod ab und führt die groteske Paranoia der russischen Regierung vor. Seit Kriegsbeginn gab es über 14.000 Verhaftungen.

Auch in Moskau gab es am Sonntag zahlreiche Verhaftungen.
Auch in Moskau gab es am Sonntag zahlreiche Verhaftungen.Imago Images

Seit dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine sind in Russland über 14.000 Menschen bei Protesten gegen den Krieg festgenommen worden. Der Mut, der solche Proteste erfordert, und die Bereitschaft, sich selbst zu gefährden, sind enorm. Aber je unangemessener die Einsatzkräfte agieren, desto wirkungsvoller sind die Bilder. Viele Festnahmen von friedlich protestierenden, jungen und alten Männern und Frauen durch bewaffnete Kräfte teils mit Helmen und schusssicheren Westen wurden mit Handykameras dokumentiert und im Internet verbreitet. Soweit es der immer stärker eingeschränkte Zugang zu den sozialen Medien ermöglicht.

Am vergangenen Wochenende gab es laut Angaben der Organisation Owd-Info mindesten 130 Verhaftungen in 21 Städten von Wladiwostok im äußersten Osten über Moskau, wo sich ein Pianist mit Handschellen an den ältesten McDonald’s fesselte, bis St. Petersburg, wo jemand am Wochenende zuvor „Nje Woine“ (dt.: „Kein Krieg“) auf das Eis des Flusses Moika geschrieben hat. Es gibt ein Bild, das einen angeseilten Beamten zeigt, der den Schriftzug mit Farbe übermalt. Im Hintergrund sieht man ein Polizeiboot, das im Eis stecken geblieben ist. Wer weiß, wie lange die Behörden überlegt haben, welche Farbe sie nehmen, sie haben sich für ein kaltes, viel zu schrilles Schwimmbadfliesen-Türkis entschieden. Die Farbe soll nur für „Nje“ gereicht haben. „Woine“ wurde mit Erde bedeckt.

Szene in Nischni Nowgorod.
Szene in Nischni Nowgorod.Screenshot

Wie grotesk Restriktivität sein kann und wie lächerlich sich die Mächtigen machen können, zeigt ein Beispiel aus Nischni Nowgorod, wo eine Frau auf einem öffentlichen Platz ein weißes Schild ohne Aufschrift hochhält. Sie wird von zwei Polizisten abgeführt. Man sieht die beiden mit großem Ernst im Kreis vieler Umstehender agieren – und man glaubt doch eine Spur von Verlegenheit in ihrer Haltung zu bemerken. Bei aller Sorge um das Schicksal der Frau, die so clever die Paranoia der russischen Führung sichtbar gemacht hat – man kann sich die Vernehmung sehr gut als ein Minidrama von Daniil Charms vorstellen, dessen Pointe darin besteht, dass man in diesem Land noch nicht einmal gegen nichts protestieren darf. Und doch wissen alle, was eigentlich auf diesem Schild stehen würde.

Eine Hoffnung in diesem Konflikt ist, dass Russland die Zivilbevölkerung nicht mehr so effektiv anlügen und einschüchtern kann, wie das bisher möglich war. Denen, die sich auf die Straße trauen, gehört unser Respekt.