Berlin ohne Gasfuß: Adieu, Autobahn!
100 Künstler, Architekten und Ingenieure arbeiten Berlins größtes Verkehrswende-Vorhaben aus – den Abriss der A104. Sie zeigen eine umweltgerechte Großstadt.

Braucht die Planer-Zunft Nachhilfe in Sachen Demokratie? Just da das Wahlvolk den Kfz-freundlichen Konservativen und nicht den Fahrräder bevorzugenden Grünen den Weg ins Rote Rathaus geebnet hat, feuert der Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg (AIV) gegen die autogerechte Stadt seine schärfste Salve ab: Er gab die Sieger im diesjährigen Schinkel-Wettbewerb bekannt. Diese Ideenkonkurrenz motivierte über 100 junge Entwerfer, der A104 ein für alle Mal den Garaus zu machen und in ihrer Freizeit Pläne für den Rückbau auszuarbeiten. Der Abriss der knapp vier Kilometer langen Autobahn, die sich im Südwesten der Stadt vom Hohenzollerndamm bis zur Tiburtius-Brücke zieht, wäre nicht weniger als Berlins mit Abstand größtes Verkehrswende-Vorhaben.
Tatsächlich ist der Planungsgegenstand geschickt gewählt. Gegen den allgemeinen Trend geht das Verkehrsaufkommen hier seit Jahrzehnten zurück. Nachdem großindustrielle Anrainer abzogen, passieren selbst die Leipziger Straße mehr Kraftfahrzeuge. Der Bund reagierte schon 2006 und entließ weite Teile der A104 formell aus dem Autobahnnetz, sodass heute allein Berlin zuständig ist. Unter grüner Führung erklärten die kommunalen Verkehrshüter LKW-Durchfahrten für illegal, stellten mittenmang Tempo-30-Schilder auf und prüften bis Ende 2022 am Breitenbachplatz den Teilrückbau. Ergebnis: Hier ist Autobahn-Verzicht vernünftig.
Was dann aus der Stadt wird, mochte sich freilich kein Verantwortlicher ausmalen. Diese ureigene Aufgabe der Amtsträger erledigten – wieder einmal – die Freiwilligen des AIV. Lange vor der jetzigen Präsentation legte sich der Verein auf den Komplett-Rückbau der A104 fest. 2019 lieferte der Architekt Robert Patschke dafür erste Skizzen. Um nicht als naive Autohasser dazustehen, gaben die Wettbewerbsbeteiligten nun Spezialaufträge und Ehrenpreise an diverse Fachdisziplinen: von der Kunst über die Verkehrsplanung und den Ingenieurbau bis zum Denkmalschutz.
Der Abschied von der Autobahn birgt mehr Chancen als Risiken
Erwartungsgemäß sehen die Jungplaner im Abschied von der Autobahn mehr Chancen als Risiken. Gerade die angehenden Verkehrsexperten dehnten das Szenario weit über das Rückbaugebiet aus. Von der Option, die vielspurige A104 zu einer einzigen Fahrbahn pro Richtung zu schrumpfen, machten sie höchstens hier und da Gebrauch. Dafür verbinden neue Quersträßchen bis dato getrennte Quartiere, nicht immer für das Auto. Glaubt man den Arbeiten, liegt der Verkehrswert sogar höher als vorher.
Die größten Gewinne verzeichnet natürlich der Städtebau. Der vom Viadukt zerpflügte Breitenbachplatz mutiert zurück zur Arena des Quartiers. Auch sonst blicken unzählige Belle-Etage-Apartments, denen die Hochstraße die Aussicht nahm, nun wieder auf die Nachbarn von gegenüber. Entlang der Trasse ermittelte die Vorplanung Neubau-Möglichkeiten für satte 6500 Wohnungen, insgesamt 600.000 Quadratmeter. Das sind Größenordnungen, wie sie immer mal wieder dem Tempelhofer Feld zugesprochen werden, wo sie aber per Plebiszit verboten sind. An der A104 ist wohl mit weniger Widerstand zu rechnen, zumal die Preisträger Stella Motz und Julius Rymarcewicz von der BTU-Cottbus das Baupotenzial nicht nach Schema F verteilen.
Von den übrigen Disziplinen werden die Hinterlassenschaften der autogerechten Stadt weniger ausradiert als umgemodelt. Wiederholt finden sich lang gestreckte Verkehrsflächen-Folgeparks nach Art des Gleisdreiecks. Neue, oft großgärtnerische Nutzungen ballen sich südlich der denkmalgeschützten Autobahnüberbauung Schlangenbader Straße – und gehen sogar noch in deren 570 Meter langem Tunnel sowie den darunterliegenden Parkhäusern weiter! Mehrere ausgezeichnete Arbeiten wollen zu nahezu Großagrarzwecken Schächte in den Betonkoloss bohren sowie den auf Dächer und Asphalt niedergehenden Regen sammeln. Offensichtlich erwartet die zukünftige Generation eine umweltgerechte Großstadt ohne Gasfuß.
Konservative Abgeordnete an der Spitze der Abriss-Bewegung
Trotz einzelner Bullerbü-Vorschläge ist die Gesamtidee von „Stadt statt A104“ mitnichten utopisch. In der Berliner Politik gilt der Abschied von der Autobahn nämlich als ausgemacht. Lediglich die AfD klammert sich noch an die Abkürzung zwischen Stadtring und A103. Der CDU brachten frühere Wahlschlappen und die Bürgerinitiative Breitenbachplatz bei, dass es mit der Raser-Route vor der Haustür keine wohlsituierte Stammwählerschaft gibt. Seither marschieren konservative Abgeordnete an der Spitze der Abriss-Bewegung. Von daher kommen die Wettbewerbsergebnisse jetzt zum genau richtigen Zeitpunkt: Sie zeigen den Regierenden in spe, worauf sich Wähler und Gewählte eben erst verständigt haben.
Die 13 Preisträger des AIV-Schinkel-Wettbewerbs „Stadt statt A104“ stellen vom 13. bis 26.3. in der Universität der Künste, Hardenbergstr. 33, aus. Ihre Arbeiten sind täglich von 9 bis 20 Uhr in der Aula R201 zu sehen.