Thilo Mischke in Afghanistan: „Ich höre Schüsse den ganzen Tag, die ganze Nacht“
Thilo Mischke ist nach drei Jahren wieder in Kabul und trifft eine Familie, die fliehen muss. Er weiß: Sie wird in Deutschland nicht willkommen sein.

Ich treibe durch diese Stadt Kabul, die ich das letzte Mal 2018 besucht habe. Es scheint, als wäre es eine andere Welt gewesen. Aber es war nur eine andere Zeit. Eine Zeit, in der schmerzhaft versucht wurde, eine Demokratie zu installieren. Freiheit zum Preis toter Zivilisten. Korruption und Verrat, Zutaten, die davon ablenken sollten, dass Kabul nicht Washington, Berlin oder London ist. Eine Zeit, in der ich angsterfüllt niemals länger als 15 Minuten außerhalb eines gepanzerten Autos durch die Straßen schlich.
Jetzt ist Kabul anders. Die Straßen sind sicherer, die Geschäfte sind geöffnet, es werden die gleichen, getrockneten Maulbeeren verkauft. Ich treibe durch die Straßen, so lange ich will, und ich bin nicht mehr angsterfüllt. Sehe die gleichen Kinder, deren Existenz nur durch einen Zufall zu begründen ist, niemals durch einen Wunsch. Sie tragen die gleichen erwachsenen Gesichter und den unerbittlichen Wunsch, etwas zu essen zu finden. Kaum noch Frauen auf der Straße, westliche Kleidung gibt es nicht mehr. Gekämmte Bärte überall.

Und trotzdem, diese Stadt, die sich wie ein Bovist auf einer Brandenburger Wiese gegen eine Kiefer zwängt, klemmt sich hier in die umliegenden Berge. Eine Stadt, die ständig atmet und sich bewegt, die stinkt, die chaotisch, dreckig und arm ist. Eine Stadt, in der unentwegt geschossen wird. Ich höre die Schüsse den ganzen Tag, die ganze Nacht. „Warnschüsse“, sagt mein afghanischer Kollege und lacht, lässt mir Zeit, mich daran zu gewöhnen. Ich gewöhne mich.
Nur Afghanen wissen, was gut für Afghanistan ist
Ich begleite eine Familie, elf Menschen: acht Mädchen, ein Vater, eine Mutter, ein Sohn. Sie wollen weg. Die Straßen sind nicht sicher für sie, bleiben in einer Zweizimmerwohnung bis zu diesem Tag, an dem sie gehen können. Was ich fühle, hier in Kabul, haben sie schon lange nicht mehr gefühlt: Sicherheit. Die Töchter sind ängstlich, der Vater ist besorgt. Sie werden gehen müssen, dabei wollten sie das Land aufbauen. Sie wollten es verändern, weil nur Afghanen wissen, was gut für Afghanistan ist. Junge studierte Frauen, ein Vater, der sagt, die Zukunft muss hier sein, aber es gibt keine Zukunft mehr.
Die Töchter weinen manchmal, wenn ich mit ihnen spreche, der Vater will weinen, schnalzt aber in großer Sorge, mit feuchten Augen, nur mit seiner Zunge. Er trägt keinen Bart.
Nichts ist sicher für sie, keine Geschäfte sind offen für sie, ein Verrat würde sie töten. Sie müssen raus aus diesem Land. Der Weg nach Deutschland ist beschwerlich, aber sie werden ihn gehen. Nicht über das Mittelmeer, nein, mit Aufnahmegenehmigung, über Pakistan.

Ich sehe sie an und weiß, egal wie gebildet die Töchter sind, egal wie modern der Vater ist, egal wie sehr der Vater im Gespräch betont, er würde seine afghanische Kultur hinter sich lassen, die Geschichte seines Lebens, um in Deutschland neu anzufangen – sie werden nicht willkommen sein. Er sagt, schnalzend, mit feuchten Augen: „Wir wollen akzeptiert werden, wir wollen lernen, wir wollen unauffällig sein.“
Wir versprachen ihnen Freiheit. Nun haben sie nichts mehr.
Es sind genau diese Flüchtlinge zweiter Klasse, die nicht jetzt, sondern immer Hilfe brauchen. Sie brauchen Hilfe wegen falscher Einschätzungen, die wir als Gesellschaft, als Nation, gemacht haben. Fehler zu ignorieren, gehört zum Menschsein dazu, schwierig wird es, wenn die Menschen, die wir ignorieren, vergessen werden. Vergessen werden bedeutet hier, zu sterben, verheiratet zu werden, hoffnungslos zu sein. Diese Frauen, dieser Vater, sie träumen von nichts, als ich danach frage.
„Hauptsache, wir leben“, sagen sie.
Wir versprachen ihnen Freiheit. Und nun haben sie nichts mehr.
Sie wollen nach Berlin. Ich spreche mit den Töchtern und verspreche ihnen, wenn sie da sind, dann stelle ich ihnen meine Eltern vor. Und wir kochen zusammen, wir werden im Garten sitzen und über Ameisenhaufen sprechen, wir werden ans Meer fahren und wir werden Frieden fühlen. Ich verspreche es ihnen, weil ich hier, in Kabul, lerne: Vielleicht geht es nicht darum, diesen Menschen ein Berlin, ein Washington, ein London in Afghanistan hinzubomben, vielleicht geht es darum, Menschen eine Heimat zu bieten, egal wo auf der Welt. Eine Heimat, in der nicht zwischen guten und schlechten Flüchtlingen unterschieden wird.