Verhaltensfrage: Darf ich einen Träumenden belauschen?

Das Sprechen im Schlaf, die Somniloquie, ist ein auf den ersten Blick harmloses Phänomen, das allerdings schwere Kräche nach sich ziehen kann.

Ein schlafendes Mädchen
Ein schlafendes MädchenWestend61/imago

Es kann ein Zeichen der Liebe sein, wenn man seinem Partner seine Träume anvertraut. Ganz abgesehen von der Liebesleistung, die das geduldige Zuhören kostet. Dabei ist es gar nicht unbedingt nötig, Interesse zu heucheln, denn die Analyse eines vor allem noch im Halbschlaf hervorgebrachten Traumberichts kann durchaus Erkenntnisse über die Gedankenwelt des Partners eröffnen, die dieser bei vollem Bewusstsein vielleicht lieber verschwiegen hätte.

Dann darf man aber auch nicht jammern, wenn man Gegenstand wenig verklausulierter Vernichtungsfantasien wird oder wenn Sehnsüchte zur Sprache kommen, gegen die man als Wirklichkeitsgenosse verblassen muss und für deren Nichterfüllung man dann auch noch verantwortlich gemacht wird – unbewusst, aber deshalb umso purer.

Einen noch direkteren Zugang bekommt man, wenn man jemanden im Schlaf sprechen hört. Dieses Verhalten, die Somniloquie, tritt ungefähr bei jedem zweiten Kind auf und verschwindet meist mit der Pubertät. Bei Erwachsenen sollen es nur noch fünf Prozent sein, die sich auf diese Weise äußern. Der Protagonist in George Orwells Dystopie „1984“ hat Angst vor dem eigenen Nervensystem, weil er es nicht kontrollieren kann. Sein Widerwillen gegen das diktatorische und manipulative Überwachungssystem und seine verbotenen Wünsche könnten sich körpersprachlich bemerkbar machen, oder er könnte sich eben durch Sprechen im Schlaf verraten, was ein Todesurteil zur Folge hätte.

Zurück zur Liebe: In dem bei der Berlinale vorgestellten Film „Past Lives“ von Celine Song lernt der jüdische Schriftsteller extra Koreanisch, um seine in Südkorea geborene Frau zu verstehen, die ebenfalls Schriftstellerin ist und in ihren Träumen zurück in ihre Kindheit reist. Sie ist im Alter von zwölf Jahren mit ihren Eltern nach Amerika ausgewandert und hat ihre große Kindheitsliebe zurückgelassen. Oder eben nicht zurückgelassen, sondern in ihrer Seele mitgenommen, wo sie einen wichtigen Winkel bewohnt, in den der Schriftsteller nicht vordringen kann.

Es gibt gleich zu Beginn ein Bild, das die drei nachts um vier an einer Bar zeigt, nachdem jene Kindheitsliebe tatsächlich nach New York zu Besuch gekommen ist. Der Schriftsteller macht da eine sehr unglückliche und ausgeschlossene Figur. Schöner Film übrigens, ein bisschen zu harmonisch vielleicht – unter anderem deshalb, weil unser Schriftsteller keine nennenswerten Fortschritte bei seinen Koreanisch-Studien macht, seine Eifersucht kontrolliert und sich mit seiner Ausgeschlossenheit abfindet.

Was soll man also machen, wenn jemand neben einem schläft und spricht? Weghören, weil die Dinge, die ans Licht kommen, einen nichts angehen könnten? Zuhören, weil man die sich auf diese Weise ausdrückenden Wünsche oder Leiden später mit dem Partner besprechen könnte, um sie gemeinsam zu erfüllen oder abzustellen? Oder sich die Ohren zuhalten, ein Aufnahmegerät in Betrieb setzen und aufs Sofa ziehen, damit man selbst weiter schlafen, der Partner ungestört weiter fabulieren und später selbst entscheiden kann, ob er darüber sprechen will? Wird es wie in Schweden beim Sex eines Tages Pflicht sein, diesbezüglich vor dem Vollzug Einvernehmen herzustellen?

Wie so oft muss der Verhaltensfragesteller die Antwortsuchenden mit einer uneindeutigen Handlungsempfehlung aus dem Text entlassen. Es kommt auf den Einzelfall an. Das Feld ist weit. Es reicht von: Wer was zu verbergen hat, der schlafe lieber allein. Bis zu: Wer sich therapeutische Hilfe bei der Traumdeutung wünscht, der nehme seinen Seelenklempner mit ins Bett.