Wie werden wir uns nach dem Tod der letzten Überlebenden an die Schoah erinnern?

Irgendwann wird es keine Schoah-Überlebenden mehr geben. Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ im Centrum Judaicum fragt, wie wir uns erinnern werden.

Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ im Centrum Judaicum. 
Im Bild: Carl Hammerschmidt
Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ im Centrum Judaicum. Im Bild: Carl HammerschmidtBerliner Zeitung/Markus Wächter

Erst im vergangenen Dezember saß die gerade 100 Jahre alt gewordene Margot Friedländer über eine Stunde bei „Markus Lanz“ vor der Kamera. Dort und in den Wochen danach sprach sie über die „neuen Feinde der Demokratie“ und warnte vor einer drohenden Geschichtsvergessenheit in Deutschland. Es ist ein Anblick, der immer seltener wird, denn von den meisten Holocaust-Überlebenden mussten sich ihre Familien bereits verabschieden und die wenigen, die noch am Leben sind, werden es nicht mehr lange sein. Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ im Berliner Centrum Judaicum, kuratiert von Alina Gromova, Anika Reichwald und Anja Siegemund, beschäftigt sich mit der Frage, wie ein Erinnern danach aussehen kann und und wie sich die Zeitzeugenschaft seit 1945 veränderte.

Man betritt die sich an der Oranienburger Straße auftürmende Neue Synagoge durch eine doppelte Sicherheitsschleuse. Zwischen den Türen aus Panzerglas durchleuchten mehrere Security-Mitarbeiter mitgebrachte Taschen, dann darf man hinein in die Ausstellungsräume des Centrum Judaicum. Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ befindet sich im zweiten Stock des Gebäudes. Betritt man die Räume, findet man sich inmitten zahlreicher kleiner Bildschirme und größerer Leinwände wieder, denn die Exposition besteht vor allem aus Video- und Tonaufnahmen von Überlebenden der Schoah.

Kritische Auseinandersetzung mit dem Kontext der Interviews

Im ersten Ausstellungsraum verbindet man seinen Kopfhörer mit den in einem Halbrund aufgebauten Bildschirmen. Dann findet man sich zuallererst Carl Hammerschmidt gegenüber, einem Überlebenden, der von 1990 über seine Kindheit in Berlin berichtet. Hammerschmidt erzählt erstaunlich aufgeräumt und distanziert. Auf die Frage, wie es seiner jüdischen Familie nach 1933 erging, antwortet er ausweichend, spricht über die Flucht aus Deutschland und das Wetter in Panama, wo die Flucht die Familie hinführte. Das Spannende an dieser Ausstellung sind nicht nur die Interviews selbst. Interessant sind auch die Einordnung und die kritische Auseinandersetzung mit dem Kontext der Gespräche. Auch die Mechanismen, mit denen die Überlebenden sich vor ihrem Trauma schützen, werden beschrieben. Hammerschmidt beispielsweise spiele „die mit den Erlebnissen verbundene emotionale Tragweite herunter“. Dies sei eine häufige Reaktion von Holocaust-Überlebenden, die zwar ihr Schweigen brechen, aber versuchen, sich ihren Emotionen nicht auszuliefern, heißt es in den Ausführungen zum Filmausschnitt.

Es gelingt längst nicht allen Überlebenden in den Interviews, die Fassung zu wahren. Manche brechen in Tränen aus oder verstummen. Zu jedem der meist wenige Minuten langen Videos gibt es analytische Ausführungen. Viele Interviews sind auf Englisch. Erst seit den 1980er-Jahren kommen die Überlebenden der Schoah auch in Deutschland vermehrt zu Wort.

Man meint, den Überlebenden persönlich zu begegnen

Mitten im ersten Ausstellungsraum ist eine Leinwand aufgebaut, davor stehen unter dem warmen Licht einer Stehlampe ein Sessel und ein Tisch mit Mikrofon darauf. Das beruhigende Ambiente der wohnungsartigen Ausstellungsräume verdichtet sich hier zu einer Art Gesprächssituation, in der man meint, den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen persönlich zu begegnen.

So ruhig waren bei Weitem nicht alle Interviewsituationen, in denen sich Holocaust-Überlebende in den Nachkriegsjahren und zur Zeit des Kalten Krieges wiederfanden. Die Erlebnisse und Erinnerungen der Überlebenden und ihre Befreiung wurden zwischen den um ein möglichst vorteilhaftes Narrativ ringenden Siegermächten immer wieder zerrieben, überhört und instrumentalisiert. In den USA, so ist es in einem Infotext im zweiten Ausstellungsraum zu lesen, kreiste „die Erinnerung an den Holocaust vor allem um die Rolle der Amerikaner als Befreier Europas und um den moralischen Sieg des Individuums.“ Die Erzählung in der Sowjetunion hingegen konzentrierte sich auf den „kollektiven Kampf“ gegen den Faschismus.

Besonders eindrücklich wird die teils überfordernde und inszenierte Zurschaustellung von Holocaust-Überlebenden im eigenen Interesse in einem Ausschnitt aus dem amerikanischen Fernsehformat „This Is Your Life“. Das Konzept: Nichts ahnende Publikumsgäste werden auf der Bühne mit Personen aus ihrer Lebensgeschichte konfrontiert. So war es auch beim Auftritt der Auschwitz-Überlebenden Hanna Bloch Kohner im Jahr 1953. Sie selbst kommt in der mit melancholischer Musik unterlegten Nacherzählung ihrer Befreiung kaum zu Wort. In einem Ton, als würde er ein Sportevent ankündigen, spricht der Moderator über das kaum nachvollziehbare Leid, dass Bloch Kohner in Auschwitz und Bergen-Belsen widerfuhr: „You were down to 33 Kilos!“, verliest der Moderator ihr Körpergewicht zum Zeitpunkt der Befreiung. Dann betritt plötzlich ein amerikanischer Soldat die Bühne, an den sich Bloch Kohner nicht erinnert. Er war, das erfährt Bloch Kohner vom Moderator, an der Befreiung von Bergen-Belsen beteiligt. Sichtlich überfordert fällt sie ihm in die Arme.

Wie können wir nach dem Tod der Überlebenden weiter erinnern?

Zu hören sind auch Ausschnitte aus Radiobeiträgen der unmittelbaren Nachkriegstage. Etwa ein zehn Sekunden langer Ausschnitt aus einem Radio-Interview mit der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker, die am Leben ist und noch immer zu Publikum spricht. Lasker-Wallfisch, wie sie heute heißt, ist 96 Jahre alt. In dem kurzen Ausschnitt sagt sie einen Tag nach ihrer Befreiung: „Hier spricht Anita Lasker, eine deutsche Jüdin.“ Und: „Man brachte uns in das furchtbarste Konzentrationslager. Auschwitz.“

Die Ausstellung im Centrum Judaicum zeigt, wie man verantwortungsvoll mit dem Vermächtnis der Schoah-Überlebenden umgehen kann. Sie zeigt auch: Erinnerung ist immer politisch und vom Kontext, in dem sie wiedergegeben wird, abhängig. Nach dem Tod der letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen werden wir uns als Gesellschaft neue Möglichkeiten einfallen lassen müssen, das Unfassbare zu erzählen, für das selbst vielen der Überleben die Worte fehlen. Bisher haben sie uns an das in Dachau in Stein gemeißelte Versprechen erinnert: „Nie wieder!“ Videointerviews mit ihnen können nun zu einer wertvollen Quelle werden, um die Erinnerung zu wahren und sie vor Gleichgültigkeit, Geschichtsvergessenheit und neuen Feinden der Demokratie zu schützen. Das zeigt die Ausstellung in der Neuen Synagoge.

Ende der Zeitzeugenschaft?  ist eine Kooperation des Jüdischen Museums Hohenems und der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg. Bis zum 8.1.2023 ist sie im Centrum Judaicum zu sehen: www.centrumjudaicum.de/ende-der-zeitzeugenschaft