Der Rücktritt der Documenta-Chefin ist nicht das Ende des Skandals
Noch immer ist die Frage nicht beantwortet, warum die ideologische Aufladung übersehen werden konnte. Die geht auch an das politische Personal.

Der unvermeidliche Entschluss vollzog sich in derart quälender Langsamkeit, dass am Ende sogar die Kraft zum Stoßseufzer „Endlich!“ fehlt. Sabine Schormann, die Generaldirektorin der Kasseler Kunstausstellung Documenta ist am Wochenende zurückgetreten.
Vorausgegangen war eine Nachtsitzung des Aufsichtsrats. Das Drama um die Aufarbeitung der in einigen Kunstwerken der Schau ausgemachten antisemitischen Darstellungen aber hatte sich schon vorher in eine Farce verwandelt.
In einer kaum mehr zu entwirrenden Kette des kommunikativen Versagens hatte Schormann am Mittwoch noch eine Art Befreiungsschlag versucht. Vergeblich. Ihre Erklärung inklusive einer fahrigen Chronologie der Ereignisse mündete in halbherzigen Entschuldigungen und der Formulierung von Gegenvorwürfen, vorgetragen in der verstörend selbstgewissen Haltung, im Grunde alles richtig gemacht zu haben.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt dürfte es Kulturstaatsministerin Claudia Roth gedämmert haben, wie gefährlich ihr das Wegducken Schormanns vor administrativer Verantwortung werden kann. Erstaunen, Befremden, wechselseitige Bezichtigungen der Lüge – aus dem Bemühen um Aufklärung war eine erbärmliche Schlammschlacht geworden.
Der Rücktritt von Sabine Schormann ist kaum geeignet, sich fortan der schönen Kunst zwischen Fridericianum und Karlsaue hinzugeben. Der Skandal bleibt für das beteiligte politische Personal virulent, zu dem neben Kulturstaatsministerin Roth insbesondere Hessens Wissenschaftsministerin Angela Dorn (Grüne) und Kassels Oberbürgermeister Christian Geselle (SPD) gehören. Das schwerfällig-ungeschickte Agieren Schormanns, das den Namen Krisenmanagement nicht verdient, hat diese nicht daran gehindert, die Documenta-Chefin als Schutzschild gegen ihre eigenen Unzulänglichkeiten zu nutzen.
Bei der Bewertung des Debakels wird es nun einer ehrlichen Bilanz ohne die üblichen Phrasen bedürfen. Im Kern wird es um die Antwort gehen müssen, warum die ideologische Aufladung übersehen werden konnte, die sich hinter dem von allen Beteiligten unkritisch verbreiteten Stichwort vom globalen Süden verbirgt und zu der nicht selten ein manifester linker Antisemitismus in Kauf genommen wird.
Ziel: Antisemitische Äußerungen abwiegeln
Wie ein inzwischen aufgetauchtes Video, das die Ausbildung von Documenta-Guides zeigt, vermuten lässt, ging es in den Vorbereitungen eher darum, den Verdacht auf antisemitische Äußerungen abzuwiegeln als tatsächliche Vorfälle zu vermeiden. Allzu lange haben sich auch Christian Geselle, Angela Dorn und Claudia Roth hinter emphatischen Gratis-Bekenntnissen zur Freiheit der Kunst verschanzt, die sie nun in dem erklärten Bedürfnis, bei künftigen Ausgaben der Traditionsausstellung mehr Kontrolle walten zu lassen, ungeniert zur Disposition stellen.
Gute Kunst steht und entsteht immer in einem Spannungsverhältnis zu den gesellschaftlichen Verhältnissen. Es kann also nicht darum gehen, Irritationen und Störungen durch künstlerische Produktion vermeiden zu wollen.
Bei der Documenta fifteeen aber scheint man es geradezu darauf abgesehen zu haben, politische Systemfragen und globale Schuldkomplexe mit dezidiert nicht-künstlerischen Mitteln zu traktieren. Wenn dabei keine Gesetze gebrochen werden, ist es einer diskursfreudigen Gesellschaft zuzumuten. Die Schadensbilanz der politischen Arglosigkeit aber wird für die Documenta nun zu einer Überlebensfrage.