Sex raus aus der Schmuddelecke? Bitte nicht!
Unsere Autorin möchte sich für ihre Scham nicht schämen müssen. Was wäre die Liebeslust ohne die Möglichkeit moralischer Übertretung? Wo kämen wir da hin?

Online-Anbieter von Sex-Toys versenden mit unverfänglichen Absendern. Das Paket mit dem aufreizenden Schmuddelkram kommt dann inkognito von einem vermeintlichen Versandhandel für Druckerzubehör oder gibt vor, Modeschmuck zu enthalten. Das hat seinen Grund: den Schutz von Privatsphäre. Wer nämlich, wie ich, im Home-Office arbeitet und seine Onlineshopping-Dealer von DHL und Co. fast jeden Tag sieht, will seinen Gummidildo oder die Latex-Maske nicht mit einem süffisanten Augenzwinkern überreicht bekommen. Manchmal habe ich auch einen Außer-Haus-Termin, dann nehmen die Nachbarn unsere Pakete entgegen.
Der neutrale Versand verhindert, dass im Gruppenchat der Hausgemeinschaft Sätze stehen wie „Familie Sowieso hat wieder was vom Dildo-King bekommen, bitte in der dritten Etage abholen!“ Ich will einfach nicht, dass der nette Rentner von nebenan auf die Idee kommt, mich irgendwann ganz nonchalant in ein Fachgespräch über Nippelklemmen und Reitgerten zu verwickeln.
„Warum so prüde?“, höre ich sogleich den wachen Geist der 68er moppern. Sex ist in unserer westlichen Gesellschaft so allgegenwärtig, dass man sich schon schämen muss, wenn man sich schämt. Das Gefühl von Scham scheint heute jedoch völlig unangemessen zu sein, unmodern, verklemmt, erbärmlich. Der Sex soll raus aus der Schmuddelecke! Vor allem wegen seiner Natürlichkeit. Jeder macht’s doch; sich selbst oder anderen, aber jeder macht’s. Der moderne Appell für mehr Offenheit und weniger moralische Verurteilung soll die Scham ausmerzen und den intimen Akt so endgültig von seiner Obszönität befreien.
Mit dieser Leitidee klären kecke Tinder-Nutzer das potentielle Match schon in ihrer Profilbeschreibung über die versauten Vorlieben auf, Start-ups verkaufen Vulva-Abdruck-Sets, sodass das Wohnzimmer jetzt via Schamlippen-Bekenntnis an der Wand von der eigenen Enttabuisierung berichten kann. Und aparte Porzellan-Dildos zieren Anrichten neben antiken Manufaktur-Vasen und zeugen dort von einer bewanderten Abgeklärtheit. Weniger Schweinkram, mehr Hygge also.
Leider lässt sich die sexuelle Scham davon nicht beeindrucken. Es ist ihr quasi egal, wie viele Vulva-Abdrücke wir in der Wohnung verteilen oder ob wir uns an Weihnachten jetzt lieber den Duft der Vagina-Kerze von Gwyneth Paltrow um die Nase wehen lassen statt der immer gleichen Zimtnote. Aber wo sollen wir es denn eigentlich treiben, wenn die Schmuddelecke wegen Umbau geschlossen ist, der Darkroom plötzlich gut ausgeleuchtet wird und hinter verschlossenen Türen gar keine Betten mehr stehen? Wo kommen wir denn da hin? Und wer soll das wegwischen?
Sexualität konfrontiert uns mit dem Anderen in seiner intimsten, zerbrechlichsten und nacktesten Form. Unser Verlangen beunruhigt uns, weil es uns nicht gehorcht. Wer sein wahres Begehren lebt, fühlt sich daher in seiner Triebhaftigkeit entblößt. Je dreckiger die Fantasie, je unerhörter die Handlung, desto schmutziger und somit schambesetzter der Sex. Und das ist auch gut so, denn Sex ist eben nie einfach nur Sex. Die Scham ist der Menschheit eigen und betrifft alle Kulturkreise. Wir sind quasi alle Schamgeborene.
Mit allen Sinnen, aber ohne Verstand
Die Scham hat uns überhaupt erst zu dem gemacht, was wir heute sind. Tatsächlich gibt es keine Gesellschaft ohne Scham. „Aber indigene Völker!“, höre ich versierte Hobby-Anthropologen insistieren. – Doch, auch die! Dieses Gefühl ist charakteristisch für die menschliche Lebensform, und Verhaltensforscher glauben sogar, dass wir ohne Schamgefühl permanent von Sex besessen wären. Wir hätten also keine Kapazitäten mehr, uns Gedanken über andere Probleme zu machen.
Seit mehreren hunderttausend Jahren haben Menschen keinen öffentlichen Geschlechtsverkehr mehr. Der Rückzug ins sicher Verborgene hat sich evolutionär bewährt, denn wer so richtig in Fahrt ist, weiß, dass man ganz schlecht gleichzeitig auf etwaige Bedrohungen achten oder mögliche Konkurrenten in Schach halten kann. Geilheit und Denken schließen sich aus – das kann man Boris Becker fragen oder Bill Clinton.
Jetzt könnte man sagen: Na gut, dann eben hinter verschlossenen Türen bumsen. Problem gelöst. Aber selbst dort lässt die Scham nicht von uns ab. Vor allem in der intimen Begegnung schämen wir uns. Wer schon mal versucht hat, während des kompletten Aktes inklusive Orgasmus den Blickkontakt mit dem – vielleicht sogar geliebten – Partner aufrecht zu erhalten, wird feststellen, dass das schwieriger sein kann, als seinen eigenen Ellenbogen zu lecken. Man erkennt sich eben, so hat es schon die Bibel formuliert, und die ist in Sachen Scham und Moral eine unübertroffene Instanz.
Das Ende der Unschuld
Luxuria, die Wollust, rangiert unter den Top 3 der Todsünden und macht uns damit erst das schönste Geschenk für den Sex: ihr moralisches Gesetz von Verbotenheit. Der Widerspruch von Moral und Sexualität ergibt sich aus dem Wesen der Sexualität, den der französische Philosoph und Autor André Comte-Sponville in seinem 2015 erschienenen Buch „Sex. Eine kleine Philosophie“ so erklärt: „…weil die Sexualität ihrem Wesen nach amoralisch oder sogar unmoralisch ist. Das ist das Naturhafte an ihr. So begegnet uns die Natur und verwirrt uns. Die Sexualität ist egoistisch, gierig und respektlos: fast das Gegenteil von Nächstenliebe oder sogar Moral.“
Kein Wunder also, dass die Religion ihr nicht traut. Was man demnach „erkennt“ beim Sex, ist das triebhafte Tier in jedem von uns. Die Erotik entsteht aus dem Spiel mit Gesetz und Trieb. Diese kultivierte Triebhaftigkeit macht unsere Menschlichkeit aus, wer sonst könnte mit den selbst auferlegten Verboten so umgehen, dass aus ihrem Übertreten Lust und Begehren wird? Die Freude am Skandal, das Geheimnis oder sogar die eigentlich unmoralische Objektifizierung des Gegenübers ist, Einvernehmlichkeit vorausgesetzt, der Ursprung des Begehrens und offenbart gleichwohl die Lasterhaftigkeit des Sex. Die Fleischeslust ist durch Unterdrückung, Verurteilung und Moral nicht kleinzukriegen. Im Gegenteil: Exzess und einvernehmliche Grenzüberschreitungen sind ihre prickelnden Möglichkeiten. „Es gibt keine unschuldige Sexualität.“, konstatiert Comte-Sponville daher. Der selbstvergessene Ruf „Gib mir Tiernamen!“ in einer heißen Liebesnacht ist wohl dichter an der Wahrheit, als man vielleicht wahrhaben will.
Moralische Tiere
Sexuelle Grenzen, Verbote und Tabus werden in jeder Gesellschaft sowie im Privaten stets neu verhandelt. Dabei lässt sich das Geheimnis der Lust nie ganz offenlegen, was man in der nahezu penetranten Zurschaustellung von Sex im Porno erkennen lässt. Die Verbotsüberschreitung hebt das Verbot selbst eben nie auf. Eine sexuelle Befreiung greift also weniger die Scham an, als dass sie vielmehr die Verderbtheit von Sexualität akzeptiert und sie in moralischer Achtung mit Gleichheit und Gegenseitigkeit lebt. Sex als glückliche Schuld ist frei – und geil.