Der spanische Film „Blancanieves“: Carmen, die Stiere und der Hahn

Im Multiplex kommen grell-bunte Bilder unter Dolby-Surround-Dröhnen auf den Betrachter zugeschossen, im künstlerisch anspruchsvolleren Mainstream dagegen greift zunehmendes stummes SchwarzWeiß um sich. Nach „The Artist“ von 2011 kommt nun „Blancanieves“ ins Kino, und er ist vielleicht weniger spektakulär als die fünffach Oscar-prämierte Rückwärts-Pioniertat von Michel Hazanavicius, aber keineswegs schlechter – und schon gar kein Nachläufer: Mit der Produktion wurde früher begonnen.

„The Artist“ rechtfertigte seine Mittel, indem er sie thematisierte: Er spielte im Filmbusiness an der Wende vom Stumm- zum Tonfilm. „Blancanieves“ verzichtet auf derlei Selbstreferenz; er begnügt sich damit, die Ausdrucksmittel des Stummfilms in Perfektion anzuwenden, zwar mit deutlich schärferen und stabileren Bildern als vor hundert Jahren, aber dennoch mit dem gesamten Repertoire an historischen Erzähltricks. Und so amüsant das in seiner expressionistischen Überdeutlichkeit oft ist – wieder zeigt sich: Zur Erzählung tief berührender Geschichten ist nichts so verzichtbar wie das gesprochene Wort, wenn die Bilder und Gesichter tragen.

„Blancanieves“ ist der spanische Name für Schneewittchen, und tatsächlich erzählt der Film das Grimm’sche Märchen von dem einsamen Mädchen mit dem schwachen Vater, der despotischen Schwiegermutter und den sieben Zwergen, allerdings verlegt ins Stierkämpfermilieu.

Torero Antonio wird in der Arena schwer verletzt, seine schwangere Frau bringt in der Aufregung eine Tochter zur Welt, stirbt jedoch bei der Geburt. Die kleine Carmen wächst zusammen mit einem Hahn bei der Großmutter auf – auch in „The Artist“ hatte die Hauptfigur stets ein Tier zur seelischen Spiegelung dabei. Erst nach dem Tod der Großmutter kommt sie auf das Gut ihres querschnittsgelähmten Vaters und unter das Regiment seiner neuen Frau, die zuvor seine Krankenschwester war. Die genießt nun ihr neues Hochglanzleben und schiebt den Gelähmten in eine der oberen Etagen ab; sie zu betreten, ist Carmen verboten.

Eine Filmsprache fürs Verborgene, Geheime und die Entdeckung

Carmens trotzige Entdeckung ihres gelähmten Vaters, ihre Gespräche und Spiele mit dem Mann bis zur fatalen Entdeckung dieser Treffen durch die Stiefmutter ist Stummfilm von größter Kraft und Souveränität, denn in dieser Sequenz, in der es elementar ums Sehen und Schweigen geht, um die Entdeckung und Geheimhaltung von Verbotenem, spielt diese Art Film ihre besonderen Qualitäten aus. Zu ausdrucksstarken Einstellungen agieren die Schauspieler auf dem schmalen Grat zwischen Zitat, Übertreibung und Glaubwürdigkeit. Die wunderbare, stilgetreu komponierte Musik von Alfonso Vilallonga verstärkt den emotionalen Gehalt der Bilder und vermag zugleich den Blick zu lenken.

Die zweite Hälfte fällt in der erzählerischen Qualität leider ab. Nach dem fehlgeschlagenen Mordauftrag der Stiefmutter an ihrer Stieftochter schließt sich Carmen einer Gruppe aus sieben zwergwüchsigen Toreros an – freundlichen, aber doch schwachen Männern wie ihr Vater. Sie muss selbst die Rolle des Kerls übernehmen, trägt die Haare kurz und wird als erster weiblicher Stierkämpfer zur Attraktion der Truppe: Während die Kleinen in den Arenen humoristische Schaukämpfe ausfechten, tritt Carmen gegen echte Stiere an – und dann leider auch gegen ihre Stiefmutter mit dem vergifteten Apfel.

Die Stiefmutter gleicht in ihrer Entschlossenheit und Kaltblütigkeit einem Mann wie Carmen selbst auch. Mit dieser Wendung in den Gender-Diskurs wird der Film leider nicht fertig, er wird episodisch und bricht schließlich eher in düsterer Ausweglosigkeit ab, als dass er schließt.

Dennoch: Wie gut tut das, Film einmal nicht als sinnliche Überwältigung zu erfahren und nicht als die vermeintlich realistische Kunstform, die man sich ohne Besinnung reinzuziehen pflegt. Man kann sich fragen, warum ein Regisseur und seine Schauspieler sich die Ausdrucksmittel von gestern so virtuos zu eigen machen, warum sie diese Mittel auch so ungebrochen anwenden – aber nicht nur sie lernen dabei etwas über die Bedingungen und die Geschichte ihres Tuns.

Auch der Zuschauer erfährt „Blancanieves“ als eine Schule des Sehens und wird aufs Schönste und Ergreifendste daran erinnert, dass Film ein stilisierendes Medium ist, das seiner Wahrhaftigkeit zum Trotz mit der Wirklichkeit nicht zu verwechseln ist.

Blancanieves – Ein Märchen von Schwarz und Weiß, Spanien 2012, Buch & Regie: Pablo Berger, Kamera: Kiko de la Rica, Darsteller: Maribel Verdú, Daniel Giménez Cacho, Ángela Molina u. a., 108 Minuten, Schwarz-Weiß, FSK ab 12