Konzepte von Staatsbürgerschaft: Der Pass steht für Kämpfe um Zugehörigkeit

Das Deutsche Historische Museum (DHM) blickt in seiner aktuellen Ausstellung auf die Idee der Staatsbürgerschaften in Frankreich, Polen und Deutschland.

Blick in die Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789“ im Deutschen Historischen Museum (DHM).
Blick in die Ausstellung „Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789“ im Deutschen Historischen Museum (DHM).epd

Das überschwängliche Gefühl, zu den Blauen zu gehören, währte nicht allzu lange. „Allez les Bleus“ war der Schlachtruf, der die französische Fußball-Nationalmannschaft 1998 zum Gewinn der Weltmeisterschaft antrieb und die Nation augenblicklich in dem Gefühl zu einen schien, einer Feier der Differenz und ihrer verschiedenen Herkünfte beizuwohnen. Die Équipe Tricolore war aus Spielern zusammengestellt, die nicht zuletzt die lange und komplexe Migrationsgeschichte Frankreichs abbildeten. Wenig später war die Illusion von einer fröhlich-bunten Nation dahin, es wurden Risse und Widersprüche sichtbar, keineswegs nur sportliche.

Vielheit und Differenz

In Deutschland war man hinsichtlich derartiger Bindungen seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eher skeptisch, auch nach der überwundenen Teilung in DDR und BRD. Der Portalinschrift des Reichstags „Dem deutschen Volke“ meinte der Künstler Hans Haacke auf Einladung des Deutschen Bundestages die Skulptur „Der Bevölkerung“ entgegensetzen zu müssen. Der Staat setzt in dieser Lesart also nicht primär auf nationale Identität; das Verbindende, so die künstlerische Idee, möge vielmehr aus der Vielheit und Differenz der in ihm Lebenden hervorgehen.

Es ist also kein einheitliches Bild der Konzepte von Staatsbürgerschaft, das das Deutsche Historische Museum (DHM) in seiner aktuellen Ausstellung am Beispiel von Frankreich, Polen und Deutschland anzubieten hat. Die Wahl gerade dieser drei Länder begründet Dieter Gosewind, der Kurator der Schau, vielmehr mit der enormen Bandbreite an Fragestellungen in Bezug auf den Status des Rechts, der eine Art Leitfaden für den Vergleich der drei Nachbarländer ist. Während Frankreich sich seit der Revolution von 1789 als stolze Bürgernation sah und sieht, verstand sich Deutschland aufgrund verspäteter Staatlichkeit umso mehr als Kulturnation. Polen indes musste mehr als 100 Jahre auf den Status anerkannter Staatlichkeit verzichten, obwohl bereits in der Stiftungsurkunde des Zisterzienserklosters in Lekno (von 1153) vom Zbilud Poloniae civis die Rede war.

Der Aufenthalt der Bürger in ihrem jeweiligen Staatsgebilde ist von sehr unterschiedlichen historischen Verläufen und Gefühlslagen bestimmt, und so besteht denn die Pointe der Ausstellung darin, ausdrücklich kein Ideal anbieten zu können. Vielmehr ist das Verhältnis von Staaten und Bürgern permanenten Veränderungen ausgesetzt, und derzeit lässt es sich in einem Spannungsverhältnis beschreiben, das zwischen einem Trend der Universalisierung von Zugehörigkeit und starken Tendenzen zur Re-Nationalisierung besteht.

Während die Bürger insbesondere in der Corona-Krise und seit jeher auf der Autobahn auf ihre Freiheit setzen, vom Staat so gut es geht unbehelligt zu bleiben, drückte sich im Brexit das Bedürfnis aus, sich wieder innerhalb fester Leitplanken zu bewegen. Das Verhältnis von Staatlichkeit, Recht und Zugehörigkeit ist im Verlauf der Geschichte in allen drei Ländern von Ambivalenz und abrupten Richtungswechseln geprägt, und was nach dem Ausfüllen kleinteiliger Formulare und wechselnden Passfarben klingt, erweist sich als permanent tobender Kampf um Zugehörigkeit samt Einschließungs- und Ausschließungsprozessen.

Zu Hause, wo es Wolken und Menschentränen gibt

Einen hohen Stellenwert erhält dabei die Zulassung oder gar die Verpflichtung zum Militär. Der späten Aussetzung der Wehrpflicht, die vorübergehend als Indiz für den Rückzug staatlicher Regulierung angesehen werden konnte, ist der Gegenpol einer privilegierten Armeezughörigkeit. Insbesondere für polnische Juden war diese ein wichtiges Merkmal auf dem fragilen Weg zu Anerkennung und Emanzipation.

Die Vielschichtigkeit des Themas samt seiner individuellen Härten lässt sich anhand der Biografie von Rosa Luxemburg beispielhaft erzählen. Zwar fühlte sich die Politikerin und Schriftstellerin, wie sie einer Freundin anvertraute, „in der ganzen Welt zu Hause, wo es Wolken und Vögel und Menschentränen gibt“. Weil ihr als akkulturierte Jüdin in Polen, das unter der Kontrolle des Russischen Kaiserreichs stand, ein Hochschulstudium untersagt war, schrieb sie sich 1889 an der Universität Zürich ein. Um sich später in Deutschland politisch in der SPD engagieren zu können, ging sie eine Scheinehe mit dem Sohn jener deutschen Familie ein, bei der sie in Zürich zur Untermiete wohnte. Trotz der preußischen Staatsbürgerschaft wurde sie wiederholt als „ausländische Jüdin“ diffamiert, und das antisemitische Ressentiment mündete schließlich in ihre Ermordung 1919 in Berlin.

Die Ausstellung fächert auf erhellende, bisweilen spielerische Weise in Dutzenden anschaulichen Beispielen einen rechtlich-formalen Begriff auf, der auch in der soeben ausgerufenen Zeitenwende von Bedeutung sein dürfte. Zu dieser Wende könnte auch der Abschied von einer die Lebenswelt dominierenden liberalen Staatsferne gehören, die nun zumindest sehr viel deutlicher an die akuten Sicherheitsbedürfnisse angepasst werden muss.

Staatsbürgerschaften. Frankreich, Polen, Deutschland seit 1789 Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM), vom 1. Juli 2022 bis zum 15. Januar 2023; Öffnungszeiten: Freitag bis Mittwoch 10–18 Uhr, donnerstags 10–20 Uhr; Eintritt 8 Euro, www.dhm.de