Roger Norrington ist ein Dirigent mit Humor. Deshalb grüßt er militärisch in den Schlußapplaus hinein – die rechte Hand an den Schirm einer imaginären Kapitänsmütze haltend. Das sollte wohl heißen: Auftrag ausgeführt! Wieder sicher an Land zurückgekehrt! Die Stunde zuvor hatte er auf einer Art Kommandobrücke zugebracht: ein bald meterhohes Dirigenten-Podest, darauf einer der philharmonischen Bühnenstühle und auf ihm sitzend Norrington. Ein Bild der Gelassenheit. Während rundherum alles tobt und braust.
Vaughan Williams selten zu hörende „Sea Symphony“ wurde am Sonntagabend vom Deutschen Symphonie-Orchester aufgeführt. Es ist die erste Sinfonie des Komponisten, sein erstes größeres Werk überhaupt und er geht dabei gleich aufs Ganze. Neben dem Orchester sind Chor und zwei Solisten fast durchweg beschäftigt, weshalb diese Sinfonie eher an ein Oratorium erinnert.
Vertont sind Texte des Amerikaners Walt Whitman, der in seinen Hymnen immer von neuem das Meer besingt: seine Unendlichkeit, seine Gewalt, seinen völkerverbindenden Charakter. Das hat in seinen Wiederholungen und in der kreisenden Bewegung der Bilder etwas orientalisch-verspieltes – Vaughan Williams dampft da kraftvoll hindurch, mit musikalischen Spannungsbögen, die bis an den Horizont zu reichen scheinen.
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Wie bricht diese Musik über die Hörer in der Philharmonie herein! Wenn in der Fanfare zu Beginn („Schau: das Meer“) das b-moll beim Wort „Sea“ in ein D-Dur eine große Terz höher wechselt, ist das, als würde dem Hörer bei dieser Akkordrückung eine Planke unter den Füßen weggezogen. Es folgt der freie Fall ins unbekannte Element. Und sicher fühlt man sich erst wieder, als das Schaukeln und Fließen in Streichern und Chor zeigt, dass dieses unbekannte Element gottlob trägt. Und wie das so ist: das Schaukeln und Fließen macht nach dem ersten Schrecken Laune.
Staunende Bewunderung
Dass das Gewaltige im Verlauf der Sinfonie dann nicht ins Angestrengt-Gewalttätige abdriftet – wie zuweilen in Mahlers „Sinfonie der Tausend“, mit der die „Sea Symphony“ gerne verglichen wird – liegt vielleicht an der pantheistischen Gewissheit, die aus Whitmans Worten und Vaughan Williams’ Musik spricht. Es wird nicht verzweifelt gesucht, wie es in Mahlers Sinfonie zu erleben ist.
Stattdessen herrscht staunende Bewunderung und Lust an der Nachahmung. Wenn im langsamen Satz („Am Strand bei Nacht allein“) ferne Welten beschworen werden, ist das keine Sehnsuchtsmusik, sondern eher eine Zustandsbeschreibung: Das ist alles hier und jetzt. Die Brandung rollt im Ab- und Anschwellen der Streicher schließlich immer noch sanft vor sich hin.
Das Angestrengte und Gewalttätige ist auch den Interpreten fremd: Norringtons Vibrato-Verbot erweist sich als angenehme Sicherung gegen möglichen Kitsch oder übermäßigen Pomp. Lisa Milne (Sopran) und Simon Keenlyside (Bariton) singen mit herrlich liedhaftem Fluß. Und dann ist da noch der Rundfunkchor Berlin, einstudiert von Joe Miller, dessen Sänger vielleicht die eigentlichen Hauptdarsteller des Abends sind.
Was für eine mühelose Kraft, was für ein Reichtum an Klangfarben! Roger Norrington hatte das Vergnügen, an diesem Abend gleichsam ein Doppel-Orchester dirigieren zu dürfen.