Deutsches Theater: Abgrund Pubertät

Nur eine Hausaufgabe gibt die Lehrerin ihren Schülern mit übers Wochenende: Redet mit euren Eltern über das Stück. Das dürfte gar nicht so einfach sein.

Während sie das sagt, stehen die Achtklässler im Rosa-Luxemburg-Gymnasium in Berlin-Pankow noch unter dem Eindruck der Aufführung, haben sogar fast eine Dreiviertelstunde lang dies und das dazu gesagt. In ihrem Klassenraum saßen dabei die Schauspielerinnen Valerie Oberhof und Katharina Schenk auf dem Lehrertisch, die zuvor Lara Schützsacks Roman „Und auch so bitterkalt“ zum Leben gebracht hatten, neben ihnen die Regisseurin Jenke Nordalm, der Regieassistent, die Theaterpädagogin. Aber mit den eigenen Eltern darüber reden?

Der Körper als Käfig

Das Buch und das Stück greifen direkt in das Seelenleben junger Menschen. In stark verdichteter, poetischer Sprache erzählt Lara Schützsack von der symbiotischen Beziehung zweier Schwestern. Malina steht am Anfang der Pubertät, Lucinda mittendrin. Die Beziehung der beiden ist so eng, als würde um sie herum ein Zaun gebaut sein. Nur wenn eine von beiden selbst den Schwesterngarten verlässt, ist eine Beziehung zur Außenwelt möglich. Das zeigt sich im Stück sehr schnell dadurch, dass beide Schauspielerinnen für beide Figuren sprechen, sie wechseln sich ab, manchmal reden sie auch im Chor.

Der Roman aber ist aus der Perspektive der Jüngeren geschrieben, sie erzählt selbst von der bewunderten Schwester. Lucinda hat vieles, wovon man als Mädchen träumt: Sie ist schön, sie strahlt etwas Besonderes aus, als würde es um sie herum leuchten. Und wenn Lucinda geht, stellt Malina nicht neidisch, sondern eher traurig fest, dann „nimmt sie alle Farben mit sich“. Doch dieses bestaunte Mädchen kommt mit ihrem Körper, mit ihren Eltern, mit den Stimmungsschwankungen nicht klar.

Natürlich leidet nicht jeder Jugendliche an sich und der Welt in demselben Ausmaß. Selten ist so radikal über Pubertät geschrieben worden, selten hat jemand für die Gratwanderung jener Jahre eine so drastische Sprache gefunden wie Lara Schützsack. Lucinda spielt mit den Jungen, die sich zu ihr hingezogen fühlen. Sie scheint den Machtkampf mit der Mutter um die Einhaltung von Erziehungsregeln zu genießen. Doch an ihren dunklen Tagen kommt sie gar nicht aus ihrem Zimmer. Und sie stellt das Essen ein. Der Roman vermittelt eindringliche Eindrücke. Der Leser ergreift Partei und fühlt sich abgestoßen, verwickelt sich in dieser Geschwisterbeziehung, findet sein eigenes Verhältnis zu den Eltern, zum Therapeuten, zur Lehrerin.

In der Stückfassung des Jungen DT entwickelt sich das vor den Augen der jugendlichen Zuschauer. Die Mädchen und Jungen hinter den Schulbänken gehören irgendwann zur Geschichte dazu. „Schau dir doch die anderen Mädchen in Lucindas Alter an!“, sagt die Mutter und weist ins Publikum. Eben war Valerie Oberhof noch Lucinda selbst, nun hat sie rote Klebestreifen-Fetzen an den Ohren, moduliert die Stimme anders. Mehr braucht sie nicht, um die Mutter zu sein. Und Katharina Schenk klebt sich einen roten Streifen unter die Nase.

Das ist im Moment lustig. Aber sie spielt jetzt den Vater, zu sagen hat sie da nicht viel. Er ist der hilflose Vierte in dieser Familie. Die Pubertät ist als Monster in sein Haus eingezogen, hat sein Leben verändert. Und als die Mutter von einer Therapie spricht, will er erst einmal nichts wissen davon.

Am meisten begreift noch Malina, die kleine Schwester. Sie fühlt mit Lucinda, das merkt man, wenn sie zusammen singen, traurige Popsongs, etwa „My Body is a Cage“ von Arcade Fire. „Wie schnell das gehen kann, dass man die letzte erwachsene Person im Haus ist“, sagt sie. In der Pubertät müssen die Kinder ihren Weg finden, das Verhältnis zu den Eltern klären, alte Freundschaften auf ihre Tauglichkeit prüfen. Eltern sollten die richtige Balance zwischen Abstand und Nähe halten, den Schutzraum für die gerade noch behüteten Kinder weiten. Das ist oft aufregend, manchmal schwer.

Diese Aufgaben und Forderungen hängen am Freitagvormittag in dem alten Gemäuer des Pankower Gymnasiums. Die paar erwachsenen Premierengäste wie der Intendant des Deutschen Theaters Ulrich Khuon blicken genauso gebannt wie die Jugendlichen. Und wenn die Schauspielerinnen sich durch die engen Reihen quetschen, sich auf Tische legen, den nassen Schwamm an die Tafel schleudern, Butterbrote verteilen, dann hört man kein verschämtes Kindergekicher, sondern echtes Staunen oder Erschrecken. Der Text entfaltet seine Wirkung unmittelbar.

Die Funken sprühen rundum

Die Aufführung zeigte beispielhaft den großen Reiz der Klassenzimmerstücke, mit denen das Junge DT nun schon seit fünf Jahren in die Schulen zieht, jedes Jahr gibt es ein neues. Valerie Oberhof und Katharina Schenk sind sichtbar älter als die Zuschauer, aber eben auch deutlich jünger als deren Eltern. Sie strahlen beim Sprechen, sie singen mit Seele, und wenn Oberhof die Lucinda gibt, dann knatscht sie so auf ihrem Kaugummi herum, als wäre das eine Protestdemonstration. Keine der beiden ist so dünn, dass man sie der Magersucht verdächtigen würde, aber als Malina von den Rippen und der Haut Lucindas spricht, glaubt man ihr, was sie sieht. Der Funke muss hier nicht von der Bühne in die Zuschauerreihen springen. Wenn der Text was taugt, die Regie Raum und Publikum mitdenkt und die Akteure ihr Handwerk verstehen, dann knistert es ringsum. So wie diesmal.

Aufführungen in der Box des Deutschen Theaters 29. 9. und 6. 11. Pro Schüler kosten die Karten fünf Euro. Die Freunde des DT springen bei Geldmangel ein. Als Klassenzimmerstück zu buchen unter klassenzimmer@deutschestheater.de oder Tel.: 28 44 12 20.