Deutsches Theater: Speed-Dating mit Flüchtlingen

Es ist gar nicht so einfach, sich auf etwas zu besinnen, das man haben will. Zumal von wildfremden Menschen. „Sie haben jetzt die Gelegenheit, etwas in unser Tauschsystem einzugeben“, hat es eben auf Deutsch, Englisch, Arabisch und Farsi geheißen. Ein schönes Sprachgewirr, das einen durch den ganzen Abend begleitet. Dann werden gelbe und graue Zettel ausgehändigt. Was ich zu geben habe? Mein altes Fahrrad, etwas reparaturbedürftig, kommt mir in den Sinn. Dann schnell die kleine Tochter zu Hause angerufen. Ob sie eines ihrer Skateboards rausrücken würde. Würde sie nicht. Hm. So fordernd geht es los an diesem Abend in der „Wechselstube“ am Sonntag auf dem Vorplatz des Deutschen Theaters, über den live von Friedrich Greiling produzierte Elektroklänge wehen.

Publikumsexperiment

Frank Oberhäußer vom Theaterkollektiv Turbo Pascal hat im Auftrag des DT zusammen mit Ruth Feindel sein ästhetisches Konzept des Publikumsexperiments mit Interaktion und Partizipation auf das große Thema Flucht angewendet. Man könnte sagen, dass diese Produktion die Fortsetzung der ganz praktischen Flüchtlingsarbeit des Theaters mit künstlerischen Mitteln ist. Ein dreiviertel Jahr lang hat sich das Haus in den Flüchtlingsdiskurs eingemischt, indem es zum Beispiel Übernachtungsplätze für Flüchtlinge bei sich eingerichtet hat. Leute vom Theater haben beim Lageso Gestrandete mit dem Linienbus abgeholt, immer zwei blieben die Nacht bei ihnen. Ein Schichtsystem haben sie dafür eingerichtet, alles freiwillig. Die Übernachtungsplätze werden gerade nicht mehr gebraucht, aber mit den Deutschkursen für Flüchtlinge machen sie weiter. Zwei der 30 Performer an diesem Abend kommen daher.

Diese 30, das sind zu je einem Drittel Berliner, dann Leute, die vor Kurzem nach Berlin gezogen sind, sowie Flüchtlinge. Bald sitze ich auf einer der Holzbänke vor dem Theater einer jungen Frau mit dunklen langen Haaren gegenüber, die mit mir mit Hilfe von Zetteln kommuniziert. Wir befinden uns in einer Art Kabine, vom nächsten Platz schirmt uns eine Holzwand ab. „Bin ich nach Berlin gekommen, um einen deutschen Mann kennenzulernen?“ Ich überlege. Sie schiebt die Sonnenbrille nach oben, damit ich in ihre Augen sehen kann. Ich hebe das „Nein“-Schild hoch. „Weil ich den Tod meines Bruders verarbeiten möchte?“ – „Weil ich zum deutschen Bruttosozialprodukt beitragen möchte?“

Es klingelt, sechs Minuten sind um. Wie beim Speed-Dating wechsle ich auf den Platz rechts neben mir. Ein junger Mann streckt mir die Hand entgegen. Er hat eine Weltkarte vor sich, auf die ich mit geschlossenen Augen tippen soll. „Du bist im Meer gelandet“, sagt er mehrmals. Endlich erwische ich ein Land. „Es liegt in Asien, besteht aus 7000 Inseln, und dort leben Muslime, die nicht Arabisch sprechen“ , sagt er. Die Philippinen! Jetzt ist er mit Raten dran. Er tippt auf Äthiopien, und ich erzähle, dass die Leute dort schön sind. „Sind sie auch arm?“, fragt er. Dass mir das nicht in den Sinn gekommen ist!

Dann sitze ich neben einer Frau, zwischen uns liegt ein Stapel mit Fragen. Zum Beispiel: Ob man lieber für Sex bezahlen würde oder sich lieber bezahlen ließe. Gar nicht so leicht zu beantworten. Trotzdem kam ich darüber mit einer Person ins Gespräch, deren Namen ich nicht einmal kenne.

Im Finale dieser theatralen Handelszone wird dann die Tauschbörse in Gang gesetzt. An einer großen Tafel kleben die Gebote und die Gesuche. „Ich hätte gern einen Job“, heißt es dort. Oder: „Spiele für eine Playstation 3“ – „Deutschunterricht.“ – „Kontakt zu Deutschen“ – „Gespräche“. „Was ist eine Stunde deiner Zeit wert?“, stand vorhin auf einem der Zettel. Deals kommen jetzt zustande. Mein Rad kann heute Abend keiner brauchen, aber das Angebot bleibt bestehen. Vielleicht kommt noch ein Anruf. Ich schließe mich einer Gruppe an, die ein junger Syrer namens Ayham zu „Arabisch kochen die ganze Nacht“ einlädt.

Der DT-Intendant Ulrich Khuon verteilt Tulpen, er spricht vom Glück dieses Abends. Und er sagt, dass er die Frage nicht mehr hören kann, ob das nun sozial sei oder Kunst. „Kunst ist sozial“, ruft er. „Das Theater formuliert immer etwas in Reaktion auf die Gesellschaft“, sagt er später. Es muss nicht immer eine Bühnenproduktion sein. Gelegenheiten für Begegnungen zu schaffen, ist ein sehr guter Anfang.

Ein Flüchtling wird Gastgeber

Mit dem Satz „Danke, dass Sie über mich nachgedacht haben“ hat sich die junge Frau, mit der ich wortlos kommunizierte, vorhin verabschiedet. Dieser Abend hat noch viel mehr fertig gebracht. Ich habe auch über mich selbst nachgedacht und – ja – über dieses Land. Ayham, den 21 Jahre alten Flüchtling aus Syrien, hat die „Wechselstube“ in einen Gastgeber für ein paar Berliner verwandelt, die ihm sonst wahrscheinlich nie begegnet wären. Wie schade wäre das gewesen! Am Montagmorgen kriege ich eine Mail: „Wir kochen am 15. Juni in Schöneberg.“