Die Bibliothek als öffentlicher Ort und digitales Speichermedium

Die Universitätsbibliothek Leipzig wurde am 22. Juni vom Deutschen Bibliotheksverband zur Bibliothek des Jahres 2017 ernannt. Die Jury pries die Bibliothek für ihre gewaltigen Fortschritte in der Digitalisierung der Bestände, in der immer weiter betriebenen Zugänglichkeit für alle Besucher und ihre lokale, regionale und internationale Vernetzung.

Direktor der Bibliothek ist seit 2006  Ulrich Johannes Schneider. Er wollte sich ansehen, wie heute Zeitung gemacht wird und besuchte mich darum in der Alten Jakobstraße 105. Als er die Großräume sah, in denen wir arbeiten und die kleinen Räume, in denen wir konferieren, lachte er und sagte: „Fast wie bei uns.“ Dann setzten wir uns zum Interview zusammen.

Wofür haben Sie den Preis bekommen?

Das ist eher eine Frage an die Jury. Aber wir haben uns diese Frage natürlich auch gestellt, schon als wir uns bewarben. Wir versuchen in der digitalen Welt die Nase vorn und den Kopf oben zu behalten. Wir tun viel für die Vernetzung der Bibliotheken und wir achten sehr darauf, dass wir unsere Bestände möglichst vielen Benutzern zugänglich machen. Die Universitätsbibliothek Leipzig gibt es seit 1543. Die im Zuge der Reformation aufgelösten Klosterbibliotheken bildeten den ersten Grundstock der neuen Bibliothek. Sie wuchs zuerst nur langsam. 1831 waren es nicht mehr als etwa 50.000 Bände. Heute sind es mehr als fünf Millionen.

Was macht die Universitätsbibliothek Leipzig besonders?

Wir machen einerseits das, was alle Bibliotheken tun: Wir arbeiten mit unseren Beständen; wir erschließen sie; wir katalogisieren sie; wir machen sie der Forschung zugänglich, ob das islamische Handschriften sind oder japanische Videospiele – um zwei Sammlungsbeispiele aus unserem Haus zu geben. Wir versuchen andererseits, auf den unterschiedlichsten Feldern aktiv und innovativ zu sein. In den vergangenen Jahren hat die UB Leipzig u. a. mit EU-Mitteln eine neue technische Infrastruktur geschaffen, die die Bibliothek unabhängig von Monopolprodukten auf dem engen Markt der Bibliothekssoftware macht. Wir haben zum Beispiel auf Basis von Open-Source-Software die Suchmaschine „finc“ für Bibliotheken entwickelt, mit der arbeiten jetzt noch 16 andere Bibliotheken deutschlandweit. Wir suchen immer Partner.

Vor ein paar Tagen traf ich einen Physiker. Er erzählte mir, er arbeite sehr gern in einer Bibliothek. Er sitze lieber dort an seinem Computer als zu Hause oder in seinem Büro. Er liebe die Atmosphäre.

Seit 15, 20 Jahren sind die Bibliothekssäle in aller Welt voller als je zuvor. Also seit Inhalte auch digital abrufbar sind. Ich erkläre mir das so: In der Bibliothek arbeitet man mit Texten und Informationen, will etwas Neues schaffen. Das ist eine kreative Arbeit. Die Atmosphäre aus Konzentration und solidarischer Kollegialität mit den Mitleidenden ist da für viele ein wichtiges Stimulanz. Dem passen sich Bibliotheken an. Es gibt bei uns neben den großen Lesesälen auch Arbeitsgruppenräume und unterschiedliche Arbeitsplätze für Leute, die zum Beispiel an ihrer Dissertation sitzen. Diese Differenzierung ist wichtig. So entstehen in einem Spiel von Abkapselung und Öffnung in der Bibliothek Öffentlichkeiten, für die die Gesellschaft draußen immer weniger Raum bietet. In einer Bibliothek ist prinzipiell jeder Gedanke erlaubt. Die Köpfe sollen hier keinerlei Einschränkung verspüren. Wir bringen ja jeder von uns  schon genügend mit in die Bibliothek. Sie ist ein Ort, an dem wir hinausdenken über das, was ist.

Kostenlos.

Das ist ganz wichtig. Seit dem 19. Jahrhundert werden Bibliotheken staatlich finanziert, damit jeder dort kostenlos die Bücher lesen kann, für die er in einer Buchhandlung Geld zahlen muss. Das ist eine große Errungenschaft, die wir auf keinen Fall jetzt in der digitalen Welt  aufgeben sollten. Die freie Zugänglichkeit zu Texten und Informationen ist zentral. Sich dafür einzusetzen, sie so unmittelbar wie möglich bereitzustellen, gehört heute zu den dringlichsten Aufgaben staatlich finanzierter Bibliotheken. Mein Traum wäre die Einrichtung kleiner Kinoräume in der Medizinbibliothek. Dort könnten die Benutzer etwa die hochaufgelösten Fotos und Filme sehen, mit denen man in der Medizin heute Krankheiten analysiert. Ähnliches wäre nötig für die Kunsthistoriker oder auch Hörstudios für die Musikwissenschaftler.

Wie halten Sie es mit dem Sammelauftrag der Bibliotheken?

Man muss da unterscheiden zwischen öffentlichen  Bibliotheken und den wissenschaftlichen. Erstere sollen aktuelle Bücher und angesagte Medien zur Verfügung stellen. Sie haben keinen Sammelauftrag. Sie erneuern alle sieben Jahre ihren Bestand. Die wissenschaftlichen Bibliotheken  sind dazu da, das – auch international – Neueste und Wichtigste den Benutzern zur Verfügung zu stellen. Für die Naturwissenschaften findet das inzwischen ausschließlich elektronisch statt. Für die Geisteswissenschaften gibt es noch einen großen Buchmarkt, der sicher nicht so bald verschwinden wird. Diese Bibliotheken sehen sich in der Pflicht, nicht nur ihre Altbestände, sondern auch die Neuerwerbungen aufzubewahren. Das zu finanzieren wird allerdings immer schwieriger.

Die Digitalisierung ist kein verlustfreier Weg in die Zukunft?

Wenn auch die alte Bibliothek online gehen soll, muss man vorsichtig sein. Als der amerikanische Schriftsteller Nicholson Baker 2001 einen empörten Artikel darüber schrieb, dass bei mikroverfilmten Zeitschriften die Anzeigen hinten im Heft ausgelassen wurden, hatte er völlig Recht. Diesen Fehler würde man heute nicht mehr machen. Inzwischen werden zum Beispiel bei der Retrodigitalisierung auch Einbände mit abfotografiert. Darauf hatte man lange verzichtet. Das Buch, das hat man inzwischen begriffen, ist mehr als nur der Text.

Es sind noch ganz andere Medien hinzugekommen.

Allerdings. Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach hat den Nachlass des Literatur- und Medienwissenschaftlers Friedrich Kittler bekommen. Das Archiv braucht dafür Computerexperten, die mit Kittlers alten Festplatten umgehen können. Die Personalstruktur der Gedächtnisinstitutionen ändert sich. Als ich vor elf Jahren nach Leipzig kam, gab es fünf sogenannte EDV-Mitarbeiter. Die stellten in erster Linie Computer auf und brachten sie zum Laufen. Heute sind in unserem Bereich Digitale Dienste 31 Menschen beschäftigt, die Hälfte  projektfinanziert. Die Anforderungen verändern sich immer wieder und dazu werden immer neue Qualifikationen gebraucht.

Haben Sie ein Beispiel?

Kürzlich war ich in der British Library, mit der zusammen wir den Codex Sinaiticus, als frühe Bibelhandschrift des 4. Jahrhunderts eines der bedeutendsten Bücher der Welt, vor sieben Jahren online gestellt haben (www.codexsinaiticus.org). Damit war erstmals allen Interessierten die komplette Handschrift zugänglich. Sie liegt ja fragmentiert in verschiedenen Bibliotheken. Jetzt aber, stellt sich heraus, können die neuen Browser nicht mehr alles abbilden. Es wäre sehr teuer, die alte Technik den neuen Gegebenheiten anzupassen. Also werden wir alles wieder neu aufsetzen. Die künftige Technik bringt zusätzlich neue Qualitäten, ermöglicht auch ein richtiges Arbeiten mit den Materialien. Es geht nicht mehr nur darum, alte Handschriften zu betrachten. Man kann mit ihnen auch spielen, sie mit Anmerkungen versehen, sie neu zusammenstellen usw. Man wird zum Beispiel eine Texterkennung darüber laufen lassen können. Das wird unseren Umgang mit  alten Handschriften völlig verändern. Und nicht nur den.

Was meinen Sie?

Seit den 80er-Jahren tippen Wissenschaftler auf der ganzen Welt ihre Texte in Computer. Sie produzieren digitale Dateien. Die Bibliotheken sind auf dem Weg, die bisher gedruckte Überlieferung und auch die in Pdfs konservierten digitalen Texte in Arbeitsinstrumente zu verwandeln. Beim E-Book kann man jetzt schon Texte markieren, Kommentare schreiben. Das wird universalisiert werden. Alle Produkte, die die Bibliothek in die digitale Welt hineinstellt, sollten solche Möglichkeiten, inklusive der Texterkennung, bieten. Das wird gelten für die neuste Dissertation oder den gerade erschienenen Aufsatz wie für älteste Handschriften. In der neuen Textwelt verschwinden Medienbrüche wie die zwischen Handschrift, Druck und Datei.

Auf digitalem Weg.

Natürlich nur digital. Wir wollen so lesen, wie wir bereits schreiben.

Gibt es Autoren, die schon so arbeiten? Man könnte neue Texte zusammenstellen aus der gesamten Weltliteratur.

Könnte man. Ich glaube aber nicht, dass die kreative Arbeit mit diesen neuen Möglichkeiten zu besonders wilden Formen der Collage führt. Wir sind kulturell viel zu bedürftig nach Individualität. Die Vorstellung, einen  Text nur aus Zitaten bestehen zu lassen, mag Walter Benjamin begeistert haben. Aber die meisten Autoren legen weiter großen Wert auf ihre Originalität. Die Bibliotheken sind daran übrigens nicht ganz unschuldig. Es war Gottfried Wilhelm Leibniz, der ab 1691 die mehr als 130 000 Titel des Katalogs der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel abschreiben ließ und alphabetisch nach Autoren ordnete. Ein neues, folgenreiches Identitätsmanagement: Die Bibliothek funktioniert wie eine Akademie.

Das Gespräch führte Arno Widmann