Frank Castorf und seine Wunderspieler zeigen mit ihrer „Karamasow“-Inszenierung, wer der Herr der Volksbühne ist. Die Inszenierung kam bei den Wiener Festwochen im Mai in einer Sargfabrik heraus, konnte krankheitshalber dort nur einmal gezeigt werden und feierte nun am Rosa-Luxemburg-Platz ihre eigentliche Premiere. Denn hier gehört die Inszenierung her. Die Volksbühne, Dostojewski, Frank Castorf, seine Spieler, Bert Neumann, der im Sommer starb, bilden zusammen das wichtigste Stück Theatertradition seit der Wende. Sie lebt.
Das ganze Haus, vielleicht am wenigsten der eigentliche Bühnenraum, wird bespielt, vom Keller bis hinaus aufs Dach und von hier aus hinüber in die Gegenwart des anbrandenden neuen Berlins − das Geschehen wird in den Zuschauersaal übertragen. Die Volksbühne vibriert, knirscht, brummt und klingt, wird selbst zur Beton-Fleisch-Skulptur, zur Kirche, zur Welt.
Radikal umgebaut
Die Sitzreihen wurden herausgerissen, der Boden mit einer brutalen porösen Asphaltschicht versiegelt, im Bühnenraum steht eine dunkle Datscha mit flachem schwarzem Teich und Pavillon; es gibt Bretterverschläge, einer beherbergt eine Sauna, aus deren Schornstein Nebel steigen, die auch die auf Sitzsäcken im Raum verteilten Zuschauer einhüllen − keimige, suppige Schwitzdämpfe des Bösen. „Der Feuchtigkeit einer Badestube bist du entsprossen, nun weißt du, was du bist.“ Das kriegt der Lakai Smerdjakow an den Kopf geknallt, der angebliche Halbbruder der Brüder Karamasow, derjenige, der den Vater erschlägt und sich selbst erhängt.
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Die Spieler toben nicht nur durch die Herzkammern des Theaters, sondern sie rammeln durch alle Stockwerke ihrer Seelen und Körper, sie vergießen sich, entäußern sich so schonungslos und lustvoll wie gekonnt. Diese Athleten der Verzweiflung bringen sich systematisch an den Rand der Erschöpfung und machen dann weiter − was manchmal ganz schön dauern kann.
Länge gehört zur Tradition
Ja, es ist mit sechseinhalb Stunden ein langer Abend, aber das gehört zur Tradition. Der Stoff braucht Zeit, die Anstrengung und die Erschöpfung der Spieler, des Hauses und der Zuschauer brauchen Zeit. Alle müssen durch diesen Zustand der Anspannung, die im nächsten Augenblick zum Zerreißen der Nerven führt. Nadryw heißt das unübersetzbare russische Wort dafür. Und dieses Reißen, dieses Loslassen der Kontrolle, dieser Absprung/Sturz in die Psychose oder in die Hysterie wird bei Dostojewski − der bekanntlich an Epilepsie litt − wie auch in der Volksbühne zerdehnt, ausgearbeitet, beleuchtet. Die Texte sind vorhanden, seitenlange psychoanalytische, metaphysische, bekennende Monologe − man muss sie sich nur noch aus Herz und Hirn knöpfen und dann herausschreien, ohne den Faden zu verlieren. Das können nur Volksbühnenspieler, und nur Castorf verlangt es von ihnen.
Sigmund Freud nannte das 1880 erschienene Buch „den großartigsten Roman, der je geschrieben wurde.“ Eine Fundgrube für den Psychoanalytiker mit Ödipus-Faible! Die Brüder Karamasow bilden auf der allegorischen Ebene die Komponenten eines Sohn-Wesens. Sie bringen den geizigen, versoffenen, geilen Vater gemeinsam um. Jener Badedampf-Spross, der die Tat irgendwo da unten, auf realistischer Ebene verübt, ist nur das Werkzeug der drei legitimen Söhne, aufgefächert in den Mönch Alexej, den Intellektuellen Iwan und den Soldaten Dmitri.
Man kann die Schauspieler riechen
Seelisch markiert werden die drei auch durch die Frauen, die sie lieben. Sie tragen das ihre zum Nadryw-Gewitter bei und sorgen für jede Menge Ausbruchsakkrobatik − jeder auf der Bühne kommt mal dran. Kohlsuppe, Kotze und Kunstblut kommen zum Einsatz, alle rennen mit nassen Klamotten herum. Manchen Zuschauern kommen die Spieler sehr nah, man kann sie riechen, verspürt in Erschütterungen ihre Energie, kann sehen, wie Menschenhaut und Asphalthaut aneinander reiben und kriegt vielleicht auch einen Spritzer zweier fachgerecht auf dem Stein zum Platzen gebrachter Wassermelonen ab (auch so eine Volksbühnentradition).
Castorf schaltet in dieses 19. Jahrhundert-Monument von Gewissens-, Gerechtigkeits- und Glaubensfragen die blutigen und dreckigen Texte des russischen anarchistischen Autors mit dem Pseudonym DJ Stalingrad und verfrachtet Dostojewski so in die Putin-Gegenwart, mitten hinein in die moralische Gegnerschaft zur westlichen demokratischen Zivilgesellschaft. Hier der echte, sündige, leidensfähige Russe (auch mal orthodoxer Sowjetmensch genannt) − da der sich überlegen und unböse glaubende Westler. Natürlich gibt es hier Anspielungen auf das 2017 bevorstehenden Ende der Castorf-Ära, das einem im Erleben eines solchen Abends (es gab auch schon andere) absurd und zerstörerisch vorkommt.