Opern-Fachmann Ulrich Ruhnke: „Berlins Kulturpolitik fehlt der Masterplan“
Montag wird der „Oper! Award“ verliehen. Im Interview spricht sein Gründer über Berlins Kulturpolitik und sagt, was die Oper tun muss, um populärer zu werden.

Ulrich Ruhnke hat 2015 in Berlin das Magazin „Oper!“ und 2019 die „Oper! Awards“ ins Leben gerufen. Am Montag, dem 27. Februar werden die Awards im Opernhaus Dortmund verliehen, das auch als bestes Opernhaus Deutschlands ausgezeichnet wird. Im Interview erzählt der Chefredakteur und Opernkenner, was das Genre braucht, um breiter wahrgenommen zu werden – und was die Berliner Kulturpolitik besser machen könnte.
Herr Ruhnke, Sie haben einmal gesagt, die Opernwelt käme sehr nüchtern, grau und griesgrämig daher. Was meinen Sie?
Ulrich Ruhnke: Das hat etwas mit der spezifisch deutschen Geschichte des Genres zu tun, wo es immer auch die Haltung gab, dass die Oper auf das vermeintlich höhere intellektuelle Niveau des Schauspiels gebracht werden müsse. So ist sie oft eine spaßbefreite Zone gewesen. Aber in Wirklichkeit ist die Oper ja immer die Musik und der Gesang und der Inhalt in einem. Sie können dem einen nicht den Vorrang vor dem anderen geben. Über Musik und Gesang erreicht man eine direkte emotionale Anbindung an den Hörer. Ich denke, ein Missverständnis liegt darin, dass man glaubt, die Oper habe den Anspruch, den Menschen zu erziehen. In den letzten Jahrzehnten waren der moralische Zeigefinger und das erzieherische Element tatsächlich sehr gewünscht. Ich glaube hingegen, man sollte die Menschen emotional erreichen und vielleicht auch emotional „umformen“, aber nicht erziehen.
Ist die Oper der letzte Hort des Bildungsbürgertums?
Wer das behauptet, ist schon lange nicht mehr da gewesen. Das Publikum wird jünger, ist gut gemischt, und es werden Themen der Gegenwart verhandelt.
Gibt es Zahlen, um diese Behauptung zu stützen?
Wir haben leider in Deutschland das Problem der mangelhaften Kulturstatistik. Es wird wenig Besucherforschung betrieben. Wir können natürlich schon sagen, dass das Opernpublikum sicher nicht denselben Altersdurchschnitt hat wie das bei Popkonzerten, aber es muss ja auch nicht jedes Kulturangebot für dieselben jungen Leute sein.
Mehr noch als beim Sprechtheater gibt es bei der Oper die Schwellenangst: Einige Publikumsschichten trauen sich gar nicht hinein, weil sie befürchten, dass sie sowieso nichts verstehen werden.
Dass man nur mit einer gewissen Vorbildung bestehen kann, dass man stark intellektuell herausgefordert wird, ist ein Vorurteil, das es abzubauen gilt. Die Oper ist etwas, das auch Spaß machen darf – und dafür gibt es genug Andockmöglichkeiten. Der eine findet seine Begeisterung vielleicht über eine bestimmte Stimme, der andere eher über die Orchestersprache, ein dritter wiederum über das Szenische. Oper erschließt man sich nach und nach.
Sie haben 2015 mit „Oper!“ ein neues Magazin gegründet. Welche Nische war noch zu besetzen?
Wir versuchen, die Oper nicht zu reduzieren auf ihren inhaltlich-intellektuellen Kern, wie das oft gemacht wird. Die Oper hat einen anderen genuinen Kern als das Schauspiel. Die Berichterstattung war aber jahrelang genauso wie über das Schauspiel. Das ging so weit, dass Sängernamen nur noch in Klammern hintern die jeweiligen Rollen gesetzt wurden, aber keine Bewertung der gesanglichen Leistung mehr stattgefunden hat. Das ist eine vollkommene Verkennung der Kunstform.

Bekannt ist allerdings auch, dass es Redaktionen zunehmen schwer fällt, Journalisten zu finden, die sich zutrauen, über Oper zu berichten – vor allem aus jüngeren Generationen.
Das ist absolut richtig. Das Problem ist oft, dass die Geschichten zwar relativ simpel sind, aber das was dahinter steckt, vor allem auch in der musikalischen Sprache, ist eben sehr viel komplexer.
Wie schaffen Sie es, jüngere Autorinnen und Autoren für Ihr Magazin zu bekommen?
Das ist tatsächlich schwierig. Es gibt viele, die es gerne machen würden, aber da muss einiges zusammenkommen: Das Interesse, die Kenntnis und die Fähigkeit, es auch zu verbalisieren.
Sterben die Opernkritiker also genauso aus wie das Publikum?
Aussterben würde ich nicht sagen! Es waren ja früher auch schon oft aus anderen Bereichen Dazugestoßene, die dann eben in einer Form berichten, die der Oper nicht unbedingt gut tut. Wir können über Oper nicht schreiben oder sprechen, wenn wir ausschließlich die Werke behandeln. Die Werke sind totes Material, das erst einmal erweckt werden muss auf der Bühne. Wer macht das? Das sind Menschen – zum Beispiel Sänger, Regisseure, Bühnenbildner. Die müssen für den Leser im Mittelpunkt stehen und nicht der wissenschaftliche Diskurs über das Werk.
Seit 2019 besetzen Sie eine weitere Nische mit den „Oper! Awards“. Warum reichte es nicht aus, dass zum Beispiel der wichtigste deutsche Theaterpreis „Der Faust“ auch Musiktheater umfasst?
„Der Faust“ ist kein Spartenpreis, sondern, wie Sie selbst sagen, ein Theaterpreis. Die Oper wird mit zwei Kategorien abgehandelt, was viel zu wenig ist. Wir haben 20. Über die Vergabe des „Faust“ wird von einer nicht opernspezifischen Jury entschieden, und es ist ein Preis des Deutschen Bühnenvereins und insofern nicht ganz unabhängig. „Die Oper! Awards“ habe ich gegründet, weil wir in Deutschland die meisten aktiven Opernhäuser und Vorstellungen weltweit haben. Neuerungen finden ganz oft hier bei uns statt. Jeder Künstler, der einen bedeutsamen Weg geht, kommt irgendwann auch durch Deutschland – und deshalb brauchen wir einen Preis hier. In der Filmbranche werden die Preise auch dort verliehen, wo die Zentren sind. Ein weiterer Grund ist, dass die Feuilletons oder allgemein die Foren für Bewertungen immer kleiner oder weniger werden. Es gibt aber gute und weniger gute Leistungen von Menschen auf und hinter der Bühne. Die müssen wahrgenommen werden, über einen längeren Zeitraum begleitet und, wenn sie besonders herausragend waren, auch gewürdigt.
Was war zuletzt eine wichtige Neuerung in der Opernwelt, die in Deutschland stattgefunden hat?
Zum Beispiel Tobias Kratzers Inszenierung des „Tannhäuser“ in Bayreuth. Der hat Entspannung reingebracht in diesen vollkommen überhitzten Bereich des Ausdeutungstheaters mit wahnsinnig viel Intelligenz, Humor und Theaterfreude. Und wenn wir bei Bayreuth bleiben: Dieses Jahr gibt es dort einen „Parsifal“, wo Teile der Zuschauer eine Augmented-Reality-Brille tragen und dadurch eine weitere Dimension in der Betrachtung bekommen. Ob diese technische Neuerung, die so neu auch wieder nicht ist, wirklich eine Neuerung bringt oder von künstlerischem Erfolg gekrönt ist, muss man allerdings erst mal sehen.
Sie gehen dieses Jahr aus Berlin heraus und verleihen die Awards am 27. Februar im Dortmunder Opernhaus, das auch zum besten Opernhaus in Deutschland gekürt wird. Was machen das Team dort richtig?
Sie müssen da sehen: Wo kommt das Haus her und wie war es bislang aufgestellt? Der Intendant Heribert Germeshausen macht ein paar Dinge einfach absolut richtig: Er vernetzt sich in die Stadtkultur hinein, das heißt, er sucht über gemeinsame Projekte den Kontakt mit Schulen, freien Gruppen oder Besucherorganisationen. Er öffnet sich proaktiv in die Stadtgesellschaft mit Beteiligungsprojekten wie „We do Opera“. Er macht einen sehr guten Spielplan mit genau der richtigen Mischung der Fragen: Was will das Publikum – aber wie kann ich es auch herausfordern und stimulieren? Außerdem ist seine Besetzungspolitik absolut herausragend. Seine Sänger ermöglichen ein musikalisches Niveau, das es in Dortmund lange nicht zu hören gab. Dieses Gesamtpaket ist einer Würdigung absolut wert, vor allem wenn man bedenkt, mit welchem Geld sie das machen. Die Oper Dortmund steht natürlich ganz anders da als ein vollkommen ausstaffiertes Haus wie die Bayerische Staatsoper oder die Häuser in Berlin.
Wie beurteilen Sie die aktuellen Entwicklungen in der Berliner Opernlandschaft? An der Deutschen Oper wurde ja nun endlich ein Nachfolger für Dietmar Schwarz gefunden.
Die Entscheidung für Aviel Cahn begrüße ich ausnahmsweise ausdrücklich. Da hat Berlin mal einen guten Griff getan – nach dem Motto „Ein blindes Huhn findet auch mal ein Korn“. (lacht)
Hätte man sich früher um eine Nachfolge für Daniel Barenboim kümmern sollen?
Selbstverständlich. Die Sache in Berlin ist, dass man Haus für Haus besetzt, aber der Kulturpolitik fehlt ein Masterplan für die gesamte Opernlandschaft in der Stadt. Man könnte sie sehr viel diverser, bunter, abwechslungsreicher gestalten. Nach wie vor zum Beispiel ist ein Problem, dass alle drei Häuser schon architektonisch ein bestimmtes Repertoire fordern. Im Moment ist es so, dass die beiden Flaggschiffe, also die Deutsche Oper und die Staatsoper, große Schnittmengen bei den Stücken haben – und das müsste nicht so sein.
Wie steht es generell um die Diversifizierung der Opernlandschaft? Gibt es zum Beispiel annähernd Gleichberechtigung am Dirigentenpult oder in anderen leitenden Funktionen?
Ich kann die Frage nach Gleichberechtigung verstehen, aber denke, es sollte in erster Linie um die Qualifizierung gehen, darum, wie gut man für die Position geeignet ist, und nicht um das Geschlecht. Im Sinne Ihrer Fragestellung haben wir leider noch keine Gleichberechtigung, aber ich halte die Reduzierung auf das Geschlecht auch nicht unbedingt für richtig.
Wie sieht es bei den aufgeführten Stoffen aus? Versucht man darüber, neue Publikumsschichten zu repräsentieren – wie das an den Schauspielhäusern Thema ist?
Ich glaube, es gibt nichts queereres und integrativeres als die Oper, die Transgender schon im Barock auf die Bühne gestellt hat und Geschlechterwechsel und den Wechsel des sozialen Stands von Mächtigen zu Ohnmächtigen und umgekehrt. Das ist alles eingeschrieben in die Geschichte des Genres, man muss es nur entsprechend zeigen. Was die Oper nicht unbedingt zeigen kann, ist absolute Tagesaktualität. Aber ich glaube, wir finden in ihr die überzeitlichen Themen, die immer aktuell sind, aber sich immer wieder in anderen Formen zeigen.