Digitale Archive: Das unerbittliche Gedächtnis

Es gibt eine Erzählung von Jorge Luis Borges, in der man die Bekanntschaft mit einem gewissen Funes macht. Neunzehn Jahre, so wird berichtet, lebte er wie einer, der träumt. „Er sah ohne wahrzunehmen, hörte ohne zu hören, vergaß alles, fast alles.“ Dann stürzte er, war danach gelähmt, doch sein Gedächtnis wurde „unfehlbar“. Es war wie eine „Abfalltonne“, alles sammelte es auf. „Ich vermute aber“, meint der Erzähler, „dass er zum Denken nicht sehr begabt war“. Denn „Denken heißt vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollgepfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten“. Denn sein Gedächtnis duldete keine Ungerechtigkeit gegenüber einer auch noch so kleinen Einzelheit. Funes: ein Fanatiker der Vollständigkeit, ein Gerechtigkeitsterrorist. Der Erzähler lässt ihn sterben, an einer Lungenblutung: Er erstickt in seiner vollgepropften Welt der Einzelheiten.

„Das unerbittliche Gedächtnis“ heißt diese Erzählung, und sie liest sich heute, 68 Jahre nach ihrem Erscheinen, wie eine Parabel auf unsere Gegenwart, in der sich Archive, Bibliotheken, Museen längst in Gefäße verwandelt haben, die alles aufnehmen, bewahren und verfügbar halten wollen, was unsere Kultur hervorbringt, vom Fleischwolf bis zum Faksimile. Solche Sammelwut ist nicht neu, aber die digitalen Verwahrmöglichkeiten machen die Archive zu scheinbar unbegrenzten und damit unerbittlichen Erinnerungsräumen. Verändert hat sich, dass Archive und Museen nicht mehr an die natürlichen Platzgrenzen ihrer Depots stoßen. Man kann zudem, in der neu eingerichteten Deutschen Digitalen Bibliothek etwa, bequem von zu Hause in Büchern stöbern und durch Museen schlendern, man darf – und der Logik eines digitalen Archivs gemäß muss man das auch – ohne Einschränkung nach eigenem Belieben im Fundus der Geschichte wühlen. Ob dies, wie die Befürworter sagen, den freien, demokratischen Zugriff auf das kulturelle Erbe ermöglicht oder ob eben jenes Erbe damit entwertet wird, weil zu ihm auch Wertkriterien und Hierarchien des besonders Bewahrenswerten gehören, ist noch nicht ausgemacht.

Begleitgeräusche des Kulturwandels

Borges lebte noch in einer Zeit, die ihre Werte in Büchern verewigt glaubte; er selbst war einer der größten Buchliebhaber und Bibliothekare des 20. Jahrhunderts. Aber Borges wusste schon, was erst das digitale Zeitalter deutlich werden ließ: Nicht nur das Buch hat Geschichte, auch die daran geknüpften Werte wandeln sich. Er sah, dass Wandlungen durch neue Techniken sich nicht in moralischen Kategorien, schon gar nicht in den schlichten Schemata von Fort- oder Rückschrittsvorstellungen einfangen lassen.

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Der dritte US-Präsident, Thomas Jefferson, jubelte einst: „Wie viele der kostbaren Werke der Antike gingen verloren als sie nur als Handschrift existierten! Ist bisher ein einziges verloren gegangen, seit die Kunst des Buchdrucks die Vervielfältigung und Verbreitung von Kopien ermöglicht?“ In Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“ von 1621 ist dagegen der Seufzer zu lesen: „Täglich erscheinen neue Bücher, Pamphlete, (...) Paradoxa, Meinungen, Irrlehren“. Wer kaum in der Lage sei, eine Feder zu halten, müsse unbedingt schreiben und sich einen Namen machen! „Sie schreiben“, so mutmaßte Burton, „um zu zeigen, dass sie noch am Leben sind.“ Aus den Druckerzeugnissen seien Dreckerzeugnisse geworden.

Dergleichen Lob- und Klagelieder sind heute täglich zu hören; es sind die üblichen Begleitgeräusche eines Kulturwandels. Aleida Assmann, die große Dame der Gedächtnisforschung, schrieb schon 1999 in ihrer Kulturgeschichte „Erinnerungsräume“, das Verhältnis einer Epoche zur Vergangenheit beruhe zu einem wesentlichen Bestandteil auf ihrem Verhältnis zu den Medien des kulturellen Gedächtnisses. Denn Medien sind keineswegs nur technische Hilfsmittel, sie erschaffen das, was uns als Vergangenheit und Geschichte entgegentritt. Erinnern ist dabei genauso eine anhand von Medien gelernte Kulturtechnik wie das Vergessen.

Von Borges kann man lernen, dass es weder Denken noch Gedenken ohne Vergessen und Übersehen geben kann. Nicht nur das Erinnern, auch das Vergessen ist heilsam. Die digitalen Medien scheinen jedoch gegen das Vergessen zu arbeiten – und verhindern damit paradoxerweise das Erinnern. Assmann, so kürzlich bei einem Gespräch in der Gedenk- und Lutherstadt Wittenberg, spricht deshalb vom „Unbehagen in der Erinnerungskultur“: Wir erlebten derzeit den „Konsistenzwandel des Erinnerungsraumes“ selbst. Offen ist dabei vor allem, welche Erinnerungskultur des Vergessens es künftig braucht. Je nach Perspektive erscheint die Gegenwart ja als vergangenheitsversessen oder geschichtslos.

Was verschwindet, gewinnt an Aura

Das Nachdenken über diesen Wandel findet derzeit noch mit Begriffen und Metaphern statt, die der Buchkultur entstammen, die Unterscheidung zwischen Tiefe und Oberfläche etwa. Diese Kultur hat ihre Bewohner daran gewöhnt, ihre Erinnerungen und Werte als „tief“ zu begreifen, in Objekten auszustellen und in Büchern festzuhalten. Entsprechend wurden (und werden) sie im privaten wie öffentlichen Raum inszeniert: zu Hause die Bücherwand, auf dem Markt das Goethedenkmal. Sie schwinden, wenn der Professor seinen Unterschied zum Handwerker nicht mehr in Bücherwänden behaupten kann, weil E-Books keine Wände brauchen, sie schwinden, wenn kein Museum mir sagt, was wichtig ist und ich selbst ins Depot klicken soll. Dass gleichzeitig Originale, alte Bücher oder echte Gemälde, zu Fetischen werden, gehört zu diesem Kulturwandel dazu: Was aus dem Alltag verschwindet, gewinnt an Aura.

Das Unbehagen in einer Welt vollgepfropfter digitaler Archive besteht darin, dass an den Menschen geknüpfte Kategorien wie Erinnern und Vergessen „immer mehr unangemessen erscheinen“ (Assmann). Sie waren bislang an eine gemeinsame Kultur des Wertens und Auswählens geknüpft; jetzt aber, so scheint es, sind zwar die Archive voll und allen zugänglich, aber die Kriterien für das Vergessen und Erinnern sind zum unscharfen Privatvergnügen geworden. Es wird auch in Zukunft noch erinnert werden, das digitale Zeitalter wird keine Zeit der bloßen Zerstreuung herbeiführen, so viel lässt sich prognostizieren. Aber es wird anders und aus anderen Gründen erinnert werden. Man muss sich, hat der Arzt Thomas Brown einst gesagt, in Umbruchszeiten von vielem trennen, was in unseren Köpfen festsitzt, will man einen „klaren und triftigen Bestand an Wahrheiten“ erwerben. So ist es. Nur dass man nicht weiß, von was sich zu trennen wäre.