Berlin-Stefan Martin Müller hat nachgezählt und kam auf die Zahl 203. Ja, genau 203 Tage war die Distel wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Er kann es nicht fassen – und sein Publikum ebenso wenig. Das verteilt sich auf Abstand im weiten Saal und kann Getränke in Flaschenhaltern am Vordersitz unterbringen, die extra dafür montiert wurden. Denn ein Pausenbüfett gibt es derzeit nicht, stattdessen hängen überall Desinfektionsspender und Hinweise, wie man sich zu verhalten hat, aber auf charmant-lustige Art, dies ist ja schließlich die Distel.
Die spielt jetzt wieder jeweils freitags und samstags (statt 50-mal pro Monat) und hat ihr Repertoire „gründlich und mit spitzer Feder“ aktualisiert. Den Anfang machte „Wohin mit Mutti?“, ein Dauerbrenner, der 2016 Premiere feierte. Inzwischen sind aus 80 Millionen Bundestrainern 80 Millionen Hobby-Virologen geworden, die auf einen Impfstoff hoffen ... Außerdem geht es um eine Firma namens Wirecard, bei deren Erfolg man sich wie in einer Bananenrepublik fühlt – ohne die gänzlich unverdächtigen Früchte beleidigen zu wollen. Mit „Ja, ja, der Jens“ wird Gesundheitsminister Spahn, auf den früher gar nicht so geachtet wurde, nun sogar im Liede gewürdigt.
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Die Grundgeschichte dieses 140. Programm der Distel freilich ist gleich geblieben: Die Bundeskanzlerin wird bedroht und muss für eine Weile abtauchen. Deshalb wird sie beim Ehepaar Rietmüller einquartiert, dem durchschnittlichsten Ehepaar in ganz Deutschland, wo sie garantiert kein Geheimdienst vermutet. Und die Rietmüllers müssen zusehen, wie sie mit der nicht unkomplizierten Politikerin klarkommen, wer die Oberhoheit über die Fernbedienung hat, wer Staub saugt und wie der kiffende Aussteiger-Bruder der Ehefrau zu erklären ist, der in der Besenkammer haust.
Irrtümlich nascht Merkel von seinen Haschkeksen, was Albträume (Anton Hofreiter umwirbt sie balztanzend in Glitzerdiscostiefeln) und Wunschträume (von Zeiten, in denen Corona wieder nur eine Biermarke sein wird) auslöst. In der Regie von Dominik Paetzholdt zelebrieren Caroline Lux, Timo Doleys und Stefan Martin Müller die Absurditäten des neuen Alltags wie der großen Weltpolitik hinreißend komisch und aberwitzig überzeugend. Hinter Plexiglaswänden begleiten Falk Breitkreuz und Til Ritter das genau beobachtete, schräg überzeichnete wilde Treiben mit musikalischer Ausgelassenheit. Auf der Bühne werden beim Singen Gesichtsvisiere getragen, um den Aerosolen Paroli zu bieten. Gegen den wunderbar subversiv-munteren Humor der Aufführung allerdings ist jeder Schutz überflüssig – und vergeblich.
„Wohin mit Mutti?“ 9. und 10.10., Distel, Tel.: 204 47 04