Doris Dörrie Scheißleben Mariachis Las Pioneras: Zehn Cent für ein Lied

Willst du ein lustiges oder ein trauriges Lied? So lautet die Standardfrage der Straßenmusiker in Mexiko. Für zehn Cent pro Musiker singen und spielen sie dann das entsprechende Wunschlied. Die mit Bolero-Jäckchen und Goldknopf-Fantasiekostümen aufgedonnerten Mariachis spielen auf Hochzeiten, Taufen sowie Geburtstagen, auf Beerdigungen und zum mit Kitsch und Pomp gefeierten mexikanischen Totensonntag auf den Friedhöfen. Ihr Beruf ist anstrengend und hart, aber sie sind Künstler, manche richtige Idole und Berühmtheiten. Ihre Berufung, die sie oft schon als mit einer guten Stimme gesegnete Kinder empfanden, besteht darin, die Menschen glücklich zu machen – selbst wenn sie sie auf Wunsch zum Weinen bringen.

Doris Dörries Filme haben immer die tollsten Titel. Und meistens sind diese Titel einfach der Wirklichkeit abgelauscht. Das gilt besonders für „Dieses schöne Scheißleben“. Es ist die Zeile eines Lieds, das Maria del Carmen, eine der Protagonistinnen dieses Dokumentarfilms, am Ende singt. Die Straßenmusikerinnen, die sich im harten Business mit den Macho-Musikern in ihren traditionellen Cowboy-Stiefeln und Sombrero-Hüten durchschlagen, sind – naturgemäß – stark, mutig, selbstbewusst. Sie sind stolz und schön – und weil ihr Kapital ihre laut schmetternde, manchmal provokant maskulin-rauchig oder kokett-verrucht eingesetzte Stimme ist, altern sie ebenso: stolz, stark, schön und selbstbewusst.

Mariachi-Sein ist kein Job für die Jugend – es ist ein Leben. „Las Pioneras“ ist eine Band aus stämmigen Damen mit rot geschminkten Lippen; die silbergrauen Haare sind kurz geschoren oder fein onduliert. Ihre Freude, ihr professioneller Ernst und die Inbrunst, mit der sie mit Fideln, Gitarren und Trompeten ihre Schlager und sentimentalen Heuler intonieren, überträgt sich unmittelbar.

Die Kunst, mit der die Regisseurin und Autorin Doris Dörrie der Wirklichkeit die schönsten Titel ablauscht, macht auch die Qualität ihrer Filme aus. Ihr Witz, ihre manchmal fast (zu) boulevardeske Komik, die quasi auf der Hand oder Straße liegende, lustige oder traurige Trivialität des Zwischenmenschlichen – sie speist sich aus ihrer genauen Beobachtung des ganz Alltäglichen. Sechs Wochen lang, so erzählt Doris Dörrie im Statement zu diesem Film, hockte sie mit ihrem gerade mal fünfköpfigen, aber blonden Filmteam auf Campingstühlchen auf der Plaza Garibaldi in Mexico-City und beobachtete nur.

In dieser moralisch-ästhetischen Haltung liegt überhaupt das simple Geheimnis jedes guten Dokumentarismus: Voraussetzung ist ein bedingungsloses Interesse an Menschen, wobei man ihnen nicht nur ohne Vorurteile begegnet, sondern ihnen vorab geradezu Komik, Kuriosität, Größe oder Seelentiefe unterstellt. Die aufmerksame Neugier auf ihre Geschichten und Lebenszusammenhänge, die im Gewöhnlichen das Besondere erkennt und herausdestilliert. Kurzum – die Wahrnehmung des filmischen Potenzials der Wirklichkeit oder die Entdeckung des Filmstars in nahezu jedem normalen Menschen. Im Grunde, sagt Doris Dörrie, „folgte der Dokumentarfilm einem buddhistischen Grundsatz: Zuhören, zuschauen, offen sein und keine Urteile abgeben“.

Stärker noch als beim Spielfilm besteht die Kunst des Dokumentarfilms auch darin, Zufälle aufzugreifen. Ihnen Zeit und Raum zu geben, ihre erzählerische Stimmung, Sprache und Eigendynamik zu entfalten. Das macht hier – naheliegenderweise neben der Tonaufzeichnung (Daniel Seiler) – vor allem die Kamera (Doris Dörrie, Daniel Schönauer). Sie bleibt versonnen an Details hängen, ganz so als sei ein Plastikteller schon die Welt; sie verharrt scheinbar gedankenverloren im noch ungeschminkten Gesicht, fährt mit im Bus durch verstopfte Straßen, läuft schwatzenden Personen hinterher durch Gassen, schaut dem Regen zu und streift über Plätze.

Aber im Mittelpunkt stehen immer die Frauen und ihre Anekdoten, ihre Erinnerungen, ihre Sorgen und Lebensweisheiten, die sie freimütig mit den deutschen Kinozuschauern teilen. Das ist dann so berührend normal wie drückende Schuhe und ein Pfannkuchen, sodass wohl ein paar verstohlene Tränen erlaubt sind, wenn im Walzertakt das Ständchen für den karnevalesken Knochenmann weggeschnulzt wird.