E-Book „Die Stadt der Anderen“: So haben Sie Berlin noch nicht gesehen
Wenn zwei Menschen nebeneinander durch Berlin gehen, sehen sie nicht dasselbe. Dafür sorgen schon Herkunft und Geschichte. Nur erfährt normalerweise der eine nichts von der Perspektive des anderen, davon, was seinem Begleiter ins Auge fällt, was seine Aufmerksamkeit erregt. In diesem Buch ist es anders. Drei Autoren-Tandems waren hier gemeinsam unterwegs, mit dem erklärten Ziel, einander ihre Stadt vorzustellen.
Begleitet hat sie die Fotografin Maria Sewcz, die ihren eigenen Blick auf Berlin wirft. Vergangenen Herbst haben sie sich zum Spazierengehen verabredet. Einer war dem anderen Stadtführer, und nun kann allen Lesern dieses Buch einer sein. Es ist ein besonderer Führer, ein Appell gegen die Blickverarmung und für die Entdeckung unbekannten Terrains. Dort könnten Löwen wohnen!
„Spazieren ist eine komplizierte Tätigkeit"
Jane Flett aus Schottland sucht in ihrem literarischen Text einen Fleck, an dem die Geschichte stillsteht. Das ist nicht einfach in Berlin, wo alles in Bewegung ist und die Zukunft aus jeder Ritze quillt. Wo sind wir? Mit Tilman Rammstedt kommt sie zum Platz der Rosen. Ja, auch so kann man den Platz vor der Volksbühne nennen. Oder konnte man. Die Rosen lagen dort eine zeitlang anstelle des Räuberrads. Das Theater war gerade besetzt. Ein Protest gegen den Wandel? Ist er hier zu finden, der Stillstand? Da aber kommt schon die Polizei und räumt das Haus.
„Spazieren ist eine komplizierte Tätigkeit. Wenn man nur eine Sekunde nicht aufpasst, geht man doch wieder normal“, schreibt Tilman Rammstedt. Jane Fleet hat ihn nach Neukölln geführt. Dort fühlt er sich wie im Urlaub, denn nichts ist ihm vertraut, nichts abgegriffen von seinem Alltagsblick. Wie wäre es, hier zu leben? Das ist so eine Frage, die sich einem im Urlaub ja ständig aufdrängt. Man sieht ein Café und überlegt, wie es wäre dort immer zu sitzen. Häuser, in denen man leben, Straßen, über die man zur Arbeit gehen könnte. Ob man dort glücklicher wäre?
So einen Zoo hat man noch nie gesehen
Die aus Brasilien stammende Érica Zíngano verwandelt ihren Spaziergang mit Maren Kames in ein langes Poem, das gleichzeitig eine Art Sprachkritik ist, die vor allem ein Beitrag zur Sprachbewusstheit ist, so wirbelnd und assoziativ, dass es ihr gelingt, von einem Tinderdate in Berlin auf ein portugiesisches Slangwort zu kommen, das dann zu den Demonstrationen in Brasilien führt, die sich an der Erhöhung der Busfahrpreise in São Paulo entzündeten. Maren Kames schreibt über den gemeinsamen Besuch im Zoo.
Und so einen Zoo hat man noch nie gesehen. Die Pflegerin spricht von der für die Wölfe so wichtigen „Ganzkörperfütterung“. Und weiter: „Im Leben eines Wolfes geht es eigentlich immer um seine Position im Rudel.“ Da muss man eigentlich nur mitschreiben. Und einen Gedanken der Begleiterin aus Fortaleza einstreuen: „Alle Tiere, die die im Zoo ausgestellten Tiere zu fressen kriegen, sind deutschstämmige oder in Deutschland heimische Tiere.“
Jeder kann aus seinem Leben einen Berliner Stadtspaziergang kreieren
Der Syrer Assaf Alassaf bringt Lucy Fricke nach Zehlendorf, wo sie noch nie gewesen ist. Hier hat er in einer Turnhalle gelebt; der Zaun, der die Halle von der Schule trennte, ist wieder weg. Man kann auch zeigen, was es nicht mehr gibt. In Berlin macht man das ständig, wenn man jemandem die Mauer nahebringen will. „Die Stadt von Assaf“, wie Lucy Fricke ihren Text genannt hat, ist auch das Lokal mit Wifi, wo er draußen an der Hauswand sein Handy ins Netz hält.
Und Assaf Alassaf schreibt, wie Lucy Fricke zum ersten Mal aus ihrer Kleinstadt nach Berlin gekommen ist, mit einem Zettel in der Tasche: „Berlin-Kreuzberg, Eisenbahnstraße, neben dem Eingang zur Markthalle IX“, hieß es darauf. Was für eine Anregung! Jeder hat doch seine eigene Berlin-Biografie, aus der man einen Stadtspaziergang machen könnte.
Das Buch ist in dem kleinen Berliner Verlag mikrotext erschienen, den 2013 Nikola Richter gegründet hat, als Verlag „für kurze digitale Lektüren“. Das heißt, hier erscheinen nur E-Books, die keine Ableitung vom gedruckten Buch sind. Die digitalen Bücher kosten oft weniger als ein Latte Macchiato. Man kann sie auf dem Handy lesen.
Die Stadt der Anderen. Mit Fotografien von Maria Sewz, Mikrotext Verlag Berlin 2017, 80 Seiten, 3,99 Euro