Edward Berger über Kriegs-Irrsinn: „Es ist absurd, es hat sich nichts verändert“

Der Filmregisseur Edward Berger über die verstörende Aktualität seines Films „Im Westen nichts Neues“ und die Erkenntnis, dass es im Krieg keine Sieger gibt.

Der Erste Weltkrieg, so dreckig wie er wirklich war: Szene aus „Im Westen nichts Neues“.
Der Erste Weltkrieg, so dreckig wie er wirklich war: Szene aus „Im Westen nichts Neues“.Reiner Bajo/Netflix

Edward Bergers „Im Westen nichts Neues“  hat bei den Londoner Baftas sieben Auszeichnungen gewonnen. Die Verfilmung von Erich Maria Remarques Kriegsroman von 1928 ist für neun Oscars nominiert. Dazu kommt: Durch Russlands Angriff auf die Ukraine ist das Werk auf einmal hochaktuell geworden. Es sei jedoch schon seit Jahren zu spüren gewesen, dass sich etwas grundlegend ändert in Europa, sagt Berger. Wir haben ihn telefonisch in Rom erreicht, wo er gerade einen neuen Film dreht. Berger freut sich zwar über die Anerkennung. Doch dass sein historischer Antikriegsfilm plötzlich so in den Zeitgeist passt, das sorgt ihn auch.

Berliner Zeitung: Herr Berger, wann ist Ihnen die Idee für den Film gekommen?

Edward Berger: Das war im Herbst 2019.

Also lange vor dem aktuellen Krieg in der Ukraine. Warum wollten Sie den Film damals machen?

Es gab verschiedene Gründe. Als mich der Produzent Malte Grunert anrief und fragte, ob ich diesen Film gerne machen würde, habe ich sofort gespürt, dass mich die Idee nicht mehr loslassen wird. Ich habe das Buch von Remarque mehrmals gelesen, es hat mir immer viel bedeutet. Ich glaube, dass das ganz stark mit unserer Vergangenheit zu tun hat, für die ich Verantwortung, Scham und Schuld empfinde. Der Film hat mir die Möglichkeit gegeben, darüber zu sprechen.

Der zweite Grund: Bei der Entscheidung für einen Film habe ich immer Zweifel: Wird er gut werden? Wollen die Menschen das sehen? Wir haben das dann am Küchentisch diskutiert. Meine Tochter, sie war damals 17, hat sofort gesagt, dass ich keine Wahl hätte, dass ich diesen Film machen müsse. Sie hatte das Buch gerade in der Schule gelesen. Und ich habe mich in ihrer Reaktion selbst wiedererkannt, denn als Jugendlicher hatte das Buch auf mich die gleiche Wirkung. Es hat mich stark berührt, dass dieses Buch nach so vielen Jahren offenbar noch so eine Kraft und Relevanz hat. Ich glaube, auch das hat mit dem Trauma unserer Vergangenheit zu tun.

Der dritte Grund: Es war die Zeit von Trump, Brexit, Orbán, der AfD. Überall wurden Menschen in Parlamente gewählt, die die Demokratie in Frage stellen. Es begann die Zeit des Isolationismus, des Nationalismus und Patriotismus. Ich habe auf den Straßen plötzlich Sätze gehört, wie sie in den 1930er-Jahren zu hören waren: „Angela Merkel müsste man an die Wand stellen.“ Das hat mich schockiert, denn es klang nicht so anders als vor 100 Jahren. Die Konfrontation wurde von den Parlamenten auf die Straße getragen. Und wo dieser konfrontative Diskurs hinführt, sehen wir jetzt in der Ukraine. Das konnte man damals alles schon spüren.

Waren Sie jemals Soldat, wie haben Sie sich in das Schicksal dieser Menschen hineinversetzt?

Ich war niemals Soldat. Aber es gibt für uns Deutsche ein Gefühl, mit dem wir aufgewachsen sind. Es ist die DNA des Krieges, das haben wir geerbt. Über das Gewicht dieses Gefühls einen Film zu machen, war ein großes Geschenk für mich. Außerdem gibt es viele Bücher, von Ernst Jüngers „In Stahlgewittern“ bis zu den Büchern von Herfried Münkler. Und dann gibt es online noch ein Archiv der Museumsstiftung Post mit Briefwechseln zwischen den Soldaten an der Front und ihren Familien daheim. Auch den Brief an Kat habe ich in diesem Archiv gefunden, wir haben ihn in unserem Film zitiert. Ich habe aus diesen Briefen viel gelernt darüber, wie sich die Soldaten gefühlt haben müssen. Jetzt zu glauben, dass ich ein realistisches Bild des Krieges zeichnen könnte, wäre jedoch vermessen. Die Realität muss noch viel grausamer sein.

Der Regisseur Edward Berger.
Der Regisseur Edward Berger.Oliver Weiken/dpa

Sie haben gesagt, Ihr Film unterscheide sich deutlich von den Kriegsfilmen aus den USA und aus Großbritannien. Sie sagen, ein deutscher Film über den Krieg müsse anders sein. Wie meinen Sie das? In Deutschland hat es ja immerhin eine sehr gründliche Aufarbeitung der Vergangenheit gegeben.

Wir haben keine andere Wahl. Ich kann diese Aufarbeitung nicht abschütteln. Selbst meine Kinder können das noch nicht. Wir machen im Sommer immer eine gemeinsame Radtour, die Donau entlang, nach Wien. Vor fünf Jahren sind wir nach Mauthausen gefahren, in das Konzentrationslager. Man fährt dort einen steilen Berg hinauf, es war sehr heiß, fast 40 Grad. In dem ehemaligen Lager gibt es 300 Schilder für die dort ermordeten Juden, Homosexuellen, Sinti und Roma … für alle Opfer der Nationalsozialisten. Mein Sohn, damals zwölf, ist durch das Lager gegangen und hat jedes Schild gelesen. Ich habe ihn dabei beobachtet und mir gedacht: Jetzt fährt es in ihn hinein, jetzt erbt er die Vergangenheit.

Wie unterscheidet sich ein deutscher Kriegsfilm von einem angelsächsischen?

England ist ein Land, das sich in zwei Angriffskriegen verteidigt hat. Die Großväter sind damals losgezogen und kehrten siegreich zurück. Als ich in London im November das erste Mal die Mohnblumen am Revers der Menschen sah, habe ich mich gefragt, was sie bedeuten. Ein älterer Herr hat mir erklärt: Das ist in Erinnerung an die Menschen, die für uns gekämpft haben. Diese Menschen sind gegen ihren Willen in den Krieg gezogen, das ist ein anderes Vermächtnis. Das hinterlässt einen anderen Geschmack, auch in den Mündern der Filmemacher. Es war immer eine Mission, die erfolgreich war. Wann immer im Film ein Deutscher auftauchte, wurde er erschossen, und das war in der Logik der Filme auch gut. In Deutschland kann es jedoch keine Heldenversion geben. Bei uns darf es keinen Feind gebe, den man besiegen muss. Es gibt keinen Erfolg und keinen Helden, sondern nur die Narbe, die der Krieg hinterlässt. Sam Mendes hat seinen Film „1917“ seinem Großvater gewidmet. Kein Deutscher könnte einen Film dieser Art seinem Großvater widmen. Ich bekomme viele Reaktionen, vor allem aus den USA und aus England, und bin immer wieder überrascht, wenn man mir sagt, dass sie dort darüber noch nie nachgedacht hätten.

Warum gab es soviel Zustimmung in Hollywood, mit immerhin neun Oscar-Nominierungen?

Ein guter Film trifft immer wieder einen Nerv. Das hat man auch bei einem Film wie „Toni Erdmann“ gesehen. Wenn ein Film dagegen zur falschen Zeit herauskommt, kann er auch ganz schnell nicht funktionieren. Wir Filmemacher sind Menschen unserer Zeit und machen die Filme in unsere Zeit hinein. Natürlich ist es wichtig, dass wir sorgfältig arbeiten und der Film anständig gemacht wird. Ich möchte in unserem Fall aber nicht von „Glück“ sprechen, denn es hat sich niemand gewünscht, dass dieses Thema so aktuell wird. Ich glaube auch nicht, dass die starke Resonanz nur vom Ukrainekrieg ausgelöst wurde. Der Film hatte eine ständig wachsende Anhängerschaft, wir haben das bei den Festivals gespürt: Es kamen immer neue Zuschauer auf uns zu, die den Film sehr mochten. Er entwickelte sich dauerhaft und stetig. Das war sehr gesund. Andere Filme starten mit einem großen Knall und verpuffen dann auch schnell. Das war hier nicht so.

Es gibt ja immer Kriege, auf der ganzen Welt. Die geraten bei uns dann schnell in Vergessenheit.

Ja, es gibt auch noch einen Krieg in Syrien, vor einigen Jahren war das ein großes Thema. Jetzt spricht man leider nicht mehr davon.

Sie haben in Ihrem Film, abweichend von Remarques Buch, auch die Friedensverhandlungen eingebaut. Warum?

Hundert Jahre nach dem Ersten Weltkrieg wurde dieser komplett vom Zweiten Weltkrieg verdrängt. Als Remarque sein Buch geschrieben hat, war das alles noch Zeitgeschehen. Man hätte meinen können, dass wir etwas aus diesem Krieg gelernt hätten. Doch das war nicht so. Der Krieg war erst der Anfang eines noch viel schrecklicheren Terrors. Das alles hatte seinen Ursprung mit Matthias Erzberger, dem Politiker, der unter großem Zeitdruck einen Waffenstillstand verhandeln musste. Er wurde später von nationalsozialistischen Terroristen ermordet. Damals entstand die „Dolchstoßlegende“, dass die Deutschen den Krieg gewonnen hätten, wenn die Politik dem Militär nicht in den Rücken gefallen wäre. Das ist natürlich kompletter Unfug, aber es wurde von Hitler genutzt, um die deutsche Gesellschaft zu spalten. Ich wollte mit dieser Szene ein Schlaglicht auf den Zweiten Weltkrieg als Folge des Ersten werfen. Mit meinem Privileg der Perspektive auf die Geschichte kann und will ich das nicht ignorieren. Außerdem gibt es eine Aussage von Remarque, dass eine Verfilmung des Buchs frei sein sollte für Interpretationen. Das hat mir Mut gegeben.

Ist das jetzt an Ihre Kritiker in Deutschland gesagt, die Ihnen vorwerfen, zu sehr vom Buch abgewichen zu sein?

Nein, ganz und gar nicht. Jeder Film lebt von der subjektiven Perspektive des Regisseurs. Jeder Film muss einem Buch etwas Neues hinzufügen, sonst kann man ja das Buch lesen und braucht den Film nicht. Im Übrigen lese ich grundsätzlich keine Kritiken. Ich habe das zum letzten Mal vor acht Jahren getan, und das hat mich zu sehr beschäftigt. Auch Kritiken, die mich nur bauchpinseln, bringen mich nicht weiter. Ich höre auf mich selber und das Urteil meiner Freunde und meiner Familie.

Wie war das Urteil Ihrer Tochter?

Nun ja. Das Urteil meiner Tochter ist natürlich stark eingefärbt, aber dennoch ehrlich, denke ich. Sie mochte den Film sehr. Wir haben vorher nicht viel über das Buch gesprochen, aber eine Szene hatte sie hervorgehoben. Es ist die Kernszene des Romans, als Paul im Krater den Franzosen ersticht und ihm dann verspricht, sich um seine Familie zu kümmern. In dieser Szene zeigt sich, wie ein junger Mensch mit seiner verlorenen Seele konfrontiert wird und begreift, dass er zu einer Tötungsmaschine geworden ist. In diesem Moment wird Paul auf das reduziert, was er in diesem Moment ist: ein reines Überlebensbiest. Die Szene war extrem schwer zu drehen, aber Felix Kammerers Spiel hatte eine ungeheure Kraft, die uns alle sehr bewegt hat. Allerdings hatten wir für drei Minuten im Film bereits anderthalb Tage gebraucht. Als dann der Regieassistent zu mir kam und sagte, wenn wir so weitermachen würden, bräuchten wir vier Tage für die Szene, hatte ich im rechten Ohr die Stimme meiner Tochter und im linken die meines Assistenten. Ich habe auf meine Tochter gehört, wir haben die Szene in dreieinhalb Tagen gedreht. Und als sie den Film später gesehen hat, hat sie genau diese Szene hervorgehoben.

Würden Sie sagen, im Krieg gibt es keine Sieger?

Mit Sicherheit.

Ist es ein Antikriegsfilm?

Das muss jeder Zuschauer für sich selbst entscheiden. Ich bin kein Botschafter und möchte kein moralisches Urteil verbreiten. Was ich womöglich erreichen kann: Dass man das Gefühl des Films vielleicht noch ein bisschen mit sich herumträgt und nicht gleich wieder vergisst. Darüber wäre ich schon sehr glücklich.

Hat Ihr Film Einfluss auf die Politik?

Das wage ich zu bezweifeln. Die Politik entscheidet auf einer anderen Ebene. Wir haben den Film allerdings in Kopenhagen in der Botschaft gezeigt, bei der Münchner Sicherheitskonferenz und bei der Nato in Brüssel, da wir mit den dortigen Instanzen in einen Dialog treten wollten. Er hat viele Diskussionen ausgelöst.

Welche Reaktionen gab es bei der Nato?

Es ist der Regel so, dass die Zuschauer am Ende des Films erst einmal schweigen. Im Anschluss bekomme ich dann viele Briefe, und gerade in der Politik wird auch viel über Twitter kommuniziert. Die französische Nato-Kommissarin hat geschrieben, dass das ein wichtiger Film sei. Der deutsche Botschafter hat mich eingeladen, mit ihm die Schlachtfelder in Belgien und Frankreich zu besuchen.

Wie empfinden Sie es, dass wir auch heute wieder über „Schlachtfelder“ reden – hundert Jahre später?

Es ist absurd, doch es hat sich nichts verändert. Der Fotograf Wolfgang Tillmans hat auf Instagram Fotos veröffentlicht, wo er Bilder aus dem Jahr 1916 von den Schlachtfeldern in Ypern den Bildern aus dem Ukrainekrieg gegenüberstellt. Es ist fatal, aber es sind im Grund dieselben Bilder.

Können wir etwas verändern?

Am Ende ist es nur ein Film. Wir können dazu beitragen, einen gesellschaftlichen Diskurs zu führen und aktiv daran teilnehmen. Um etwas zu verändern, müssen wir gemeinsam die Ärmel hochkrempeln.

Das Gespräch führte Michael Maier.