Ein Trip nach Göttingen - lehrreich und überraschend cool

Wo die Frage, wem die Stadt gehört längst entscheiden ist und zwar zugunsten ihrer Bewohner: ein Besuch in Göttingen. Dort ist es lebenswerter als gedacht.

Das Göttinger Börner-Viertel: Eine idyllische Ansammlung von Hinterhöfen, voller Galerien, Cafés und Kneipen.
Das Göttinger Börner-Viertel: Eine idyllische Ansammlung von Hinterhöfen, voller Galerien, Cafés und Kneipen.IMago

Es gibt Städte, von denen hat man schon vor dem ersten Besuch ein sehr genaues Bild. Dann gibt es Göttingen. Als Berlinerin kennt man mindestens drei Personen, die dort studiert haben, Medizin wahrscheinlich, und allein deswegen gibt es dort, so die Annahme, wahrscheinlich sehr viele Fahrräder. Letzteres stimmt. Bei Ankunft am Hauptbahnhof – zweieinhalb Stunden von Berlin aus mit dem ICE, doppelt so lange mit dem 9-Euro-Ticket – gerät als erstes eine Drahteselskulptur biblischen Ausmaßes in den Blick. Wie man da sein eigenes wiederfindet? Das wissen nur die Göttinger. Sofort ist man neidisch auf die highwaygleichen Radwege und das Gefühl, dass die Wem-gehört-die-Stadt-Frage hier zugunsten ihrer Bewohner entschieden wurde. Sogar ein innerstädtisches Fahrradparkhaus gibt es. Es bietet sich also an, sich für den Kurzaufenthalt ein Rad zu mieten, zum Beispiel bei Marco Bike gleich am Hauptbahnhof.

Von da sind es nur ein paar Schritte zur ersten Unterkunft. Das Freigeist Göttingen  wurde 2018 eröffnet, ein schlicht-moderner Bau mit Saunabereich, Sand-Dachterrasse und unangestrengtem Metropolenflair. Im Erdgeschoss befindet sich die auch Einheimischen zugängliche Herbarium Bar, deren Chef Yannick Bertram vom Falstaff zum Bartender des Jahres ausgezeichnet wurde. Hinter dem Tresen hat er ein vertikales Kräuterbeet, drum herum diverse botanische Drucke, und auch die sechzehn Signature Drinks haben einen floralen Bezug. Wir entscheiden uns für einen Bonvivant, die alkoholfreie Version eines Boulevardier, und einen sahnig-süßen 1920, benannt nach dem Beginn der Prohibition. Gleich nebenan befindet sich das hoteleigene Restaurant Intuu, ein gleichzeitig luftig und gemütlich wirkender Raum mit Sichtbetonwänden und expressiven Lampen. Der Name soll einerseits an das englische into erinnern (ankommen, sich wohlfühlen), andererseits japanisch klingen, schließlich ist die Küche eine japanisch-peruanische. Ceviche, California Rolls & Co. sind für Berlinerinnen nichts Neues, hier aber auf hohem Niveau zubereitet. Fantastisch sind die angegrillten Thunfisch-Maki und Jakobsmuschel-Tostada. Der misogebeizte, auf der Zunge schmelzende Lachs ist, dafür lege ich die Hand in den Jospergrill, der beste, den ich je hatte.

Die Göttinger Rathaus im Sommer
Die Göttinger Rathaus im Sommerimago

Wer nach dem Abendessen noch mal die Stadt erkunden will, den schickt Bartender Bertram in die Monster Bar, zu Tante Giulia oder ins Esprit. Frisch gezapftes Kölsch gibt es im Thanner’s, und die Nautibar braut ihr eigenes Bier. Außerdem gibt es dort den Tiefseetaucher, eine Schnapskreation, die, so heißt es, alle, die in Göttingen studieren, mal getrunken haben müssen. „Umsonst und draußen“ lautet hingegen das Motto auf dem Wilhelmsplatz, mit Kioskbier und hoher Studidichte, gleiches gilt für das Leineufer.

Spätestens beim Hotelfrühstück am nächsten Morgen – Shakshuka, Avocado-Sauerteigbrot – fallen die Unmengen an Skandinavisch sprechenden Gäste auf. Offenbar legen viele von ihnen auf dem Weg in den Süden einen Zwischenstopp in Göttingen ein. Liegt halt so schön praktisch in der Mitte Deutschlands. Das ist auch der Grund für die vielen Seminarräume im Freigeist: Firmen halten hier gerne Tagungen ab, weil die Anreise dann für alle halbwegs gleich weit ist.

Coole Buntglasfenster und Meloneneis

Bevor Sie jetzt denken, dass das zu pragmatisch klingt für eine Städtetrip, verlassen wir das Hotel in Richtung Innenstadt. Die ist nämlich alles andere als gesichtslos, mit Pflasterkopfsteinfußgängerzone und hingeduckten Fachwerkhäuschen, von denen einige wenige wegen Einbruchgefahr gestützt werden müssen. Offenbar ist die niedersächsische Stadt nicht mit Reichtum gesegnet, jedenfalls, wenn man dem in der Jacobikirche ausgelegten Bettelbrief glaubt, der mit vielen Ausrufezeichen zum Spenden für neue Kirchenfenster aufruft (der Ausblick vom Kirchturm soll schön sein, ist aber aufgrund von Bauarbeiten derzeit nicht möglich). Die aktuellen Buntglasfenster sind ziemlich cool, modernistische Knallfarbenquadrate, und die Säulen bemalt wie Zuckerstangen. Wenige Meter von der Kirche entfernt liegen zwei uns empfohlene Cafés, wobei das P-Café leider nur am Wochenende geöffnet hat. Im Birds hängen Vogelkäfige an der Wand, und die DIY-mäßig wirkende Eisdiele gegenüber verkauft handwerklich hergestelltes Wassermeloneneis.

Göttingen wirbt mit dem Slogan „Die Stadt, die Wissen schafft“. Grund sind die vielen gelehrten Söhne und Töchter (zugegeben, mehrheitlich Söhne) und die über vierzig Nobelpreisträger, darunter der Mathematiker Carl Friedrich Gauß und die Gebrüder Grimm, in deren Glanz man sich in Form von an Fachwerkhäuser geschlagenen Plaketten sonnt. Auch sonst begegnen einem überall in der 115.000-Einwohner-Stadt, von denen gut ein Viertel Studierende sind, Verweise auf Kopf und Geist. Im unweit des Hauptbahnhofs gelegenen Forum Wissen etwa, einem imposanten, erst vor wenigen Wochen eröffneten Wissenschaftsmuseum. Weil die Bauzeit sich so sehr verzögerte (nicht nur in der Hauptstadt laufen Dinge aus dem Ruder), ist der Eintritt vorerst kostenlos.

Das frisch eröffnete „Forum Wissen“ der Georg-August-Universität Göttingen
Das frisch eröffnete „Forum Wissen“ der Georg-August-Universität Göttingendpa

Wer lieber Kunst sehen will, ist im Kunsthaus Göttingen gut aufgehoben, einem brutal-gut aus der Fachwerkhübschheit herausstechenden Betonklotz. Die aktuelle Ausstellung zeigt den kalifornischen Anti-Dream der Künstlerin Maya Mercer und Alper Aydins Felsenfotos, außerdem kann man Briefe an einen in Indien inhaftierten Freiheitskämpfer schreiben. Schräg gegenüber des Kunsthauses steht ein, na klar, baufälliges Fachwerkhäuschen, in dem sich eine Arbeit des amerikanischen Künstlers Jim Dine befindet, ein auf Banner gedrucktes und von ihm als Videoinstallation verlesenes Wutgedicht. In Zukunft soll in eben diesem Häuschen der Steidl-Verlag, der zu den renommiertesten Kunstbuchverlagen Deutschlands gehört, eine Programmauswahl präsentieren. Gerhard Steidl, geboren 1950 in Göttingen, verlegt unter anderem Joseph Beuys und Günther Grass (dessen Archiv sich wiederum neben dem Steidl-Verlagshaus befindet) und wurde von Karl Lagerfeld mal als „bester Drucker der Welt“ bezeichnet. Umso verwunderlicher, dass man ihm oder dem Steidl-Verlag im Stadtbild kaum begegnet.

Stichwort Kunst: Bis September lohnt sich ein Kurztrip nach Göttingen schon allein deshalb, weil er sich perfekt mit der Documenta verbinden lässt. Der Regionalzug nach Kassel braucht etwa eine Stunde, die man am besten mit Einlesen verbringt, sonst kapiert man vor Ort leider nicht so viel. Erstmals in der Geschichte der 67-jährigen Ausstellung hat die Leitung ein Kollektiv übernommen, was dazu führt, dass das Ganze auf sympathische Art aus dem Ruder läuft wie anderswo Bauvorhaben. Es gibt DIY-Magazin-Börsen und Käsebrotgärten, eine Skateboardrampe und einen Bootsverleih mit Tagträumworkshops. Allein für diesen Lumbung-Vibe (indonesischer Begriff für eine gemeinschaftlich genutzte Reisscheune, im übertragenen Sinn Kollektivität und Verteilungsgleichheit) lohnt sich der Tagesausflug nach Kassel.

Schlafen wollen wir dann aber wieder in Göttingen, und zwar dieses Mal im Hotel Freigeist Nordstadt. Es ist erst wenige Wochen alt und befindet sich auf einem großflächigen Arbeits-Wohnen-Leben-Areal zwanzig Gehminuten vom Hauptbahnhof entfernt. Auch hier wurde viel Wert auf eine detailreiche Ausstattung gelegt – beide Freigeist-Häuser gehören zu den Design Hotels – in Form von wuchtigen Lederloungesesseln, historischen Präzisionswaagen und Holzradios, die tatsächlich funktionieren. Von der Dachterrasse kann man der Göttinger Sun beim Downen zusehen, die besseren Drinks gibt es aber im Erdgeschoss, einem schummrigen Raum im Industrial-Style mit rundum begehbarer Bar.

Die Karte des Weights & Measures nimmt Bezug auf das Waagen-Thema des Hotels, das wiederum auf die Göttinger Firma Sartorius verweist, Hersteller der weltweit ersten Präzisionswaage. Der Driver Spritz stimmt mit seinen mediterranen Bitternoten schon mal auf das Essen im East of Italy ein. Die Fusion von israelischer und italienischer Küche erschließt sich zwar abgesehen von einer Tahini-Pizza nicht wirklich, ändert aber nichts daran, dass man hier einen guten Abend haben kann, vor allem der auf Ottolenghi-Geschirr servierten Vorspeisen wegen: Baba Ganoush, Austernkebap und Burrata. Letztere gibt es praktischerweise direkt nebenan zu kaufen, im dem Hotel angegliederten Feinkostshop Viani. Dessen Käsesortiment wiederum das Frühstücksbuffet des nächsten Morgens bestückt: Büffelmozzarella, Ricotta-Salat, dazu Grillgemüse und die arabische Frischkäsespezialität Labneh.

Göttingens Spezialität: Baumkuchentorte

Für die letzten Stunden gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder man macht einen Ausflug zum zwanzig Gehminuten entfernt gelegenen Kiessee (bekannt geworden durch die Schlagzeile „Wels frisst Rotwangenschildkröte“), geht schwimmen, tretbooten oder Kanu fahren und isst Gazpacho oder Erdbeeren mit Vanillesahne im Kredo. Oder aber man vertritt sich die Beine im 1736 von Albrecht von Haller gegründeten Alten Botanischen Garten. Auch dieser ist kostenlos, wobei sich eine Führung schon allein aufgrund von Michael Schwerdtfeger lohnt, einem Botanikprofessor mit großflächigen Blumentattoos und großem Anekdotentalent. Wieder geht es um die finanziell prekäre Lage der Stadt – so viele gestrichene Stellen und das Angewiesensein auf Ehrenamtliche –, wodurch Schwerdtfeger zufolge aber auch der Charme des Improvisierten entsteht. Auf einer Fläche von vier Hektar wuchern, krautern und wurzeln rund 8000 Pflanzensorten aus aller Herren Länder. Und zu fast allen kann das „freundliche und kompetente Gesicht des Gartens“ (Selbstbeschreibung Schwerdtfeger) etwas erzählen! Leider werden derzeit die 150 Jahre alten Gewächshäuser renoviert.

Der Morgen an einem Steg am Göttinger Kiessee
Der Morgen an einem Steg am Göttinger Kiesseedpa

Wer mag, isst anschließend Persisch im Café Botanik oder die Stadtspezialität Baumkuchentorte im Cron & Lanz. Den besseren Hafermilchcappuccino gibt es allerdings im Kaffeehus, ebenso wie frisch gebackene Zimtschnecken und „Hipsterstulle“ aka Avocadobrot. Studentisches Publikum, wunderschöner Innenhof. Auf dem Rückweg zum Hotel kommt man am Alten Rathaus und der Gänseliesel vorbei, dem inoffiziellen Wahrzeichen der Stadt. Früher war es Brauch, die 1901 erbaute Statue zu Beginn des Studiums zu küssen, weil das Ganze allerdings ausartete, sind heute nur noch Promovierte gefragt. Schön, wenn Wissen auch Liebe schafft. Noch ein Tipp: Göttingen belegt Platz fünf der Städte mit den meisten Fahrraddiebstählen – schließen Sie Ihr Leihrad also ordentlich an.