Eine Frau, die Augen öffnet

Olivia Wenzel liest am Donnerstag im Rahmen des „20 Sunsets“-Programms auf der Dachterrasse des Hauses der Kulturen der Welt an der Spree.

Die Autorin Olivia Wenzel - hier an der Potsdamer Straße.<br><br>
Die Autorin Olivia Wenzel - hier an der Potsdamer Straße.

Benjamin Pritzkuleit

Berlin-Literatur lebt in Büchern, das wird niemand bestreiten. Doch Literatur braucht auch das öffentliche Gespräch, das Weitersagen und Fragenstellen. Olivia Wenzel, die in diesem Frühjahr, in die Corona-Pause hinein, ihren ersten Roman veröffentlicht hat, sucht diese Gespräche. Und nachdem Lesungen, so sie überhaupt stattfanden, über Wochen in Podcasts und andere Streaming-Formate verschwanden, begibt Olivia Wenzel sich nun live vor ein Publikum. Im Rahmen des „20 Sunsets“-Programms liest sie auf der Dachterrasse des Hauses der Kulturen der Welt an der Spree.

Und Olivia Wenzel ist auf jeden Fall eine, der man zuhören sollte. 1985 in Weimar geboren, wuchs sie auf in einem sich verändernden Land. In ihrem Buch „1000 Serpentinen Angst“ (Verlag: S. Fischer) erzählt sie von diesem Umbruch aus einer unüblichen Perspektive, denn die Hauptfigur, die meistens sprechende Person, ist schwarz. Die Verteilungskämpfe im Osten Deutschlands, als die Arbeitslosigkeit stieg und die Städte leerer wurden, erlebt diese Figur als Tochter einer Punkerin und eines Studenten aus Angola deutlicher noch als ihre Mitschüler und Freunde. Daran zu zerbrechen, war nicht schwer – wie sie aus nächster Nähe erlebt.

Die Autorin schrieb zuvor schon fürs Theater, brachte Stücke in Hamburg, München und in Berlin auf die Bühne, war Gast beim Stückemarkt des Theatertreffens. Sie sang eigene Texte im Elektronik-Duo Otis Foulie. Das 350 Seiten dicke Buch nun, das aus vielen kurzen Abschnitten gebaut ist und doch als Ganzes wirkt, versteht sie selbst als ihr „Coming-out als Nicht-Weiße“. Das sagte sie in einem Gespräch mit der taz. Olivia Wenzel, selbst schwarz, schreibt hier erkennbar aus der Perspektive einer Frau, die sich in die Minderheiten-Rolle gedrängt sieht: als schwarze Deutsche.

Eine Serpentine mag zunächst einmal kompliziert erscheinen: Anstelle der kürzesten Verbindung von unten nach oben oder umgekehrt, bietet sie einen schlangenförmigen Umweg. In „1000 Serpentinen Angst“ wählt Olivia Wenzel eine für das schnelle Lesen umständlich erscheinende Schreibweise, weil sie immer wieder das lineare Erzählen zugunsten von Frage-Antwort-Strecken unterbricht. Das sind keine Dialoge. Denn hier gibt es immer eine Auskunft fordernde und eine Auskunft gebende Stimme. Auf dem komplizierten Weg aber erreicht der Roman sein Ziel, öffnet den Lesern die Augen und das Herz. Die Fragen, die sich das Ich stellt, wirken auf die Gesellschaft zurück, denn es geht in Varianten darum, einen Platz zu finden, sich ausdrücken zu können und akzeptiert zu werden. Fragen sind produktiv, weil sie Veränderungen bewirken können. Angst aber lähmt.

Am Donnerstag auf dem Dach des HKW und unter freiem Himmel wird Olivia Wenzel von dem perfomativ arbeitenden Bühnengestalter Minh Duc Pham, der Musikerin Malu Peeters und der Schauspielerin Banafshe Hourmazdi begleitet.