Kaum eine Stadt der USA polarisiert wie Chicago. Fans der „Windy City“ schwärmen von morgendlichen Sonnenaufgängen, die sich hier in den Frühlingswochen zwischen die schachbretthaft angeordneten Wolkenkratzer legen, und die jeweils nur für ein paar Minuten am Tag bis tief in die Downtown zu erleben sind. Oder von der Architektur-Tradition eines Mies van der Rohe oder Louis Sullivan, die die Stadt bis ins Mark hinein prägen. Vielleicht auch von dieser eigentümlichen Chicagoer Pizza-Variante, die im Grunde wie ein Auflauf schmeckt. Und auch von der – dank Einwanderung aus Mexiko, Italien, Polen und auch Ukraine – die Stadt so sehr prägenden Vielsprachigkeit und Diversität.
Wo die einen in Chicago das „bessere“ Amerika erkennen – die Wirkstadt Barack Obamas, ein Ort frei von der Prätention und der künstlichen Distanz, die Städte wie New York oder Los Angeles in den Augen mancher ausstrahlen –, sehen andere in ihr nur die „Murder Capital“: eine gefährliche, seit Covid verarmte und fraglos gezeichnete Stadt.
Meistgelesene Artikel
Nach fast zweieinhalb Jahren Pause ist die jährliche Kunstmesse Expo Chicago jetzt an ihren Ursprungsort zurückgekehrt: den Navy-Pier-Hafen – mit Blick auf das Wasser und die charakteristische Skyline. Die Messe ist die Nachfolgerin der Art Chicago, die 2012 von Tony Karman neu aufgelegt wurde. Die diesjährige Expo umfasste über 140 Stände, Mitte April wurde sie eröffnet. „Die Ausstellung ist tief im kulturellen Ökosystem Chicagos verwurzelt“, kommentierte Karman am Ende des ersten Tages der diesjährigen Expo. Chicago finde sich hier jährlich für eine Woche zusammen, die Künstler:innen und Galerien in Chicago neuen Auftrieb gebe.
Eine Spannbreite an Ausdrucksformen
Die Spannbreite auf der Expo Chicago ist fraglos beeindruckend: Von klassischer Malerei über Installationen, Video-Kunst und Fotografie ist hier ein breites Spektrum an Ausdrucksformen vertreten. Da ist etwa die Serie „Vogue“ des brasilianischen Künstlers Elian Almeida, wo – in dick hervorstehenden Ölschichten – vergessene und sprichwörtlich gesichtslos gemachte Persönlichkeiten wie als Ausschnitt eines vergangenen Covers der berüchtigten Modezeitschrift zu sehen sind. Das wirkt wie imaginäre Nostalgie: eine Erinnerung an eine glamouröse, eine bessere Realität, die in dieser Form nie existiert hat.

Im Mittelpunkt stehen dabei Schwarze Frauen, die es zweifelsohne verdienen, genauso hell zu leuchten, wie ihre hellhäutigeren Cover-Vorläuferinnen. Für die Expo wählte die in New York und Sao Paulo ansässige Galerie Nara Roesler Almeidas etwa ein Porträt der Quilomba-Führerin Teresa de Benguela aus, die im 18. Jahrhundert half, den Widerstand gegen die Sklaverei in Brasilien zu organisieren. Auch die in den USA geborene Tänzerin Josephine Baker ist vertreten. Sowie Elizabeth Eckford: eine der ersten Schwarzen Schülerinnen an der Little Rock Central High School im US-amerikanischen Bundesstaat Arkansas.
Rassistische Lebenswelten
Zu zeigen, wie eine nur vermeintlich vergangene, rassistische Lebenswelt die Sehnsüchte und Träume der Gegenwart spiegelt – aber auch, wie eine heute bewusstere und direktere künstlerische Auseinandersetzung mit Ungleichheit aussehen könnte: Das ist eine der roten Linien, die sich auch durch das Werk des US-amerikanischen Künstlers Dread Scotts ziehen. In Chicago sind – am Stand der in Schöneberg ansässigen Nome Gallery – seine Bilder der historischen Nachstellung „Slave Rebellion Reenactment“ aus dem Jahr 2019 zu sehen.

Zusammen mit mehreren hundert mit Säbeln und Macheten bewaffneten Mitstreiter:innen marschierte Scott von der Woodland Plantation im Bundesstaat Louisiana am Mississippi Richtung New Orleans. Auf jener Strecke vollzog sich 1811 das sogenannte „German Coast Uprising“: der größte Aufstand versklavter Menschen in der US-amerikanischen Geschichte. Das Ergebnis der Arbeit sind martialisch wirkende Aufnahmen Schwarzer Menschen in Lumpenklamotten, die mit schweren Gewehren der Abendröte entgegen schießen. Ein sehr starkes – wenn auch leicht romantisiert wirkendes – Bild Schwarzen Widerstands. Scott ist selbst vor Ort in Chicago. Von der Polizei in den USA gehe heute eine ähnliche Gefahr aus wie von den Lynchmobs Ende des 19. Jahrhunderts, sagt er über jene soziale Realität der USA, die seine Arbeiten prägt.

Auch Max Hetzler und Kornfeld sind in Chicago vertreten
Nome ist nicht die einzige Berliner Galerie auf der Expo Chicago. Die Galerie Max Hetzer etwa zeigt hier Werke der 1985 geborenen, italienischen Künstlerin Giulia Andreani, die persönliche Erinnerungsgegenstände und Archivmaterial in ihrer fotorealistischen Schwarz-Weiß-Malerei zu unheimlichen, oft als feministisch lesbaren Geschichten verarbeitet. Andreani malt mit Paynes Grey – einer Farbe, die weniger intensiv ist als schwarz und die den Bildern etwas Weiches, fast Verwaschenes verleiht, das sie leicht verfremdet und somit den Zugang zu Andreanis schweren Themen wie Tod, Geburt oder Protest erleichtert.

Auch die Berliner Galerie Kornfeld ist in Chicago vertreten. Hier sind fantastische und doch sehr unterschiedliche Vertrer:innen zeitgenössischer Malerei zu sehen: etwa die pastelligen Gemälde des britischen Malers Nick Dawes. In ihnen hallt das Echo des abstrakten Expressionismus wider, sie lassen an Arbeiten von Stars der Moderne wie Agnes Martin, Cy Twombly oder Ellsworth Kelly denken. Oder auch an den rauhen, auratischen Schleier in den Arbeiten der Berliner Künstlerin Tamina Amadyar.
Auch bei Kornfeld kann man Werke der chilenisch-peruanischen Malerin Ivana de Vivanco finden. Ihre karnevalesken Gemälde wirken so humoristisch wie düster. Es sind detailverliebte Studien, die Alltägliches in schrille Choreografien verwandeln. Vivancos „Study for a Happy Apocalypse“ (2018), das hier zu sehen ist, zeigt etwa eine Familie vor einer künstlichen Strandkulisse – nackt, in Yoga-Posen und mit holzschnittartigen Gliedmaßen. Das wirkt wie eine Kippfigur der bürgerlichen Kleinfamilie: Familiäre Enge und Glück werden so ununterscheidbar wie Kulisse und Realität. Die Bilder verbinden schrille Farbpaletten mit clownesken Motiven, lateinamerikanischem Barock und entlarvender Psychologie.

Wechselspiel von Gender-Rollen und Intimität
Wer sich fürs Psychologische und für das Wechselspiel von Gender-Rollen in Beziehungen interessiert, darf auf der Expo Chicago auch die Fotografien der chinesischen Künstlerin Pixy Liao nicht verpassen. Im Rahmen der „Profile“-Sektion der Expo Chicago, die Stände featured, die einer einzelnen Künstlerin oder Kunst-Kollektiven gewidmet sind, stellt die in New York und Beijing ansässige Gallerie Chambers hier Pixys über Jahre angelegte Serie „Experimental Relationship“ aus. Die Fotografin verkompliziert darin auf herrlich-subtile Weise traditionelle Vorstellungen von Dominanz und Intimität in heterosexuellen Beziehungen.
Auch wenn in diesen Fotos nie explizit Nacktheit zu sehen ist, vermittelt sich in jedem einzelnen von Pixys Bildern ein Sinn von Sex und von Nähe, von emotionalem Druck und physischem Schmerz. Ein Eindruck, der in merkwürdigem Kontrast zu der tageslicht-durchströmten Stimmung jener Selbstportraits steht, die die Fotografin meist zusammen mit ihrem langjährigen Partner zeigen.

Die Bilder erlauben einen vielschichtigen Einblick in die Beziehung der beiden: Wir sehen etwa ein Bild des Schattenspiels zweier übereinander geschlagener Hände, die sich lediglich durch roten Nagellack unterscheiden oder ein Bild sich in Klaviertasten verschränkender Finger, als Ausdruck des sprichwörtlichen Zusammenspiels. Auch ein wie ein angedeuteter Penis durch einen Reißverschluss hervorstehender Daumen ist hier zu sehen, zwei auf einer filigranen Stahlleiste hart aufsetzende Füße, oder das Wechselspiel von Drücken und Fallen – von spielerischem Hin-Her und unausweichlicher Verbundenheit – des Paars auf einer Schaukel.
Ausstellungen im Rahmen der Expo Chicago
Parallel zur Expo selbst sind in Chicago jährlich Ausstellungshighlights über die Stadt verteilt zu sehen. Das Luxushotel Peninsula in Zentrum Chicagos etwa zeigt eine von der Kavi Gupta Galerie organisierte Ausstellung, die die Werke von fünf Vertreter:innen des Chicagoer AfriCobra-Kollektivs (African Commune of Bad Relevant Artists) featured: Jeff Donaldson, Jae Jarrell, Wadsworth Jarrell, Gerald Williams und Sherman Beck.
Die Schau, die sich vom ersten bis ins fünfte Stockwerk des Hotels erstreckt, ist ein sprichwörtlicher Liebesbrief an den Geist des Kollektivs und steht in einem in dieser Form wirklich außergewöhnlichen Kontrast zum exklusiven Ambiente des Ausstellungsraums. Gegenüber dem Hoteleingang ist eine Installation der Künstlerin Jae Jarrell zu sehen, in der ein grünes Kleidungsstück aus ihrer ehemaligen Boutique Jae of Hyde Park sich mit sichtschutzähnlichen Elementen verbindet. Der Titel des Werks: „Frock You“ (1994) („Kleide dich“).
Im Speisesaal des Peninsula hängt die titelgebende Arbeit, „I Am Somebody“ (1968) von Gerald Williams. Auf einer Leinwand in leuchtenden Farben blickt ein Schwarzer Mann mit geschlossenen Augen nach unten. Um ihn herum sind Konfigurationen des Titels zu sehen. „Eine kraftvolle Erinnerung daran, dass die Stärke, Liebe, Würde, Selbstachtung und Empathie, für die AfriCobra steht, für unsere Zukunft unerlässlich sind“, heißt es im Wandtext.
Zohra Opokus bei Mariane Ibrahim
Ein weiteres Highlight im Umfeld der Expo Chicago ist die Ausstellung der in Ghana lebenden Künstlerin Zohra Opoku, die hier bei der somalisch-französischen Junggaleristin Mariane Ibrahim ausstellt. Ibrahims kometenhafter Aufstieg sowie ihr anhaltendes Interesse für afrikanische Kunstpositionen hat die Kunstszene in Chicago und Paris in den letzten Jahren maßgeblich geprägt.
In Opokus Gemälden vermischen sich Siebdrucktechnik, Porträts und baumähnliche Flechtstrukturen. Auf die Leinwand aufgestickte Hände scheinen nach fehlenden Gesichtern zu greifen, während Auge, Nase und Ohr davon schweben. Opokus‘ Ausstellung „I Have Arisen ... The Myths of Eternal Life, Part One“ entstand infolge der Krebsdiagnose der Künstlerin. Sie zeigt in ihre Elementarteile zerfallene Körperteile, die sich in ihren Kompositionen wie von Neuem zusammensetzen. Die baumähnlichen Elemente ihrer Werke beziehen sich auf eine Serie von Fotos, die die Künstlerin während ihrer Chemotherapie in Berlin aufgenommen hat.
Wo Zohra Opoku Existenzielles, im Verfall und Neuaufbau Begriffenes bearbeitet, spürt Jewel Ham Alltäglichstem nach. Jedes ihrer figurativen Gemälde in der Ausstellung „I said what I said“ ist in knalligen Rot-, Orange-, Violett-, Gelb- und Pinktönen gehalten. Jedes ihrer Gemälde scheint vor Energie förmlich zu zerplatzen. Es sind Bilder, in denen die Künstlerin persönlicher wie kollektiver Freiheit nachspürt – frei von den Ängsten, die sie als Schwarze Frau in Amerika stets in sich trägt. Frei auch von den visuellen und auch künstlerischen Beschränkungen, die dem Label „Schwarz“ oftmals noch anhängen.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht ein Gemälde namens „try me better“ (2022). Eine junge Frau hält sich darin einen dicken Stapel Bargeld wie einen Telefonhörer ans Ohr – eine Geste, die an Musik-Videos von Trap-Rappern erinnert. Ham kanalisiert in diesen Bildern die Kämpfe ihrer Vorfahren. Sie spiegelt die Opfer, die sie gebracht haben, um das Profane, Feiernde und Unbeschwerte afroamerikanischer Kultur künstlerisch aufzuwerten.
Jewel Hams Ausstellung in der Stony Island Arts Bank zu sehen, einer ehemaligen Bank, die der Bildhauer, Performancekünstler und Investor Theaster Gates 2015 für die Öffentlichkeit zugänglich machte. Der Ort ist eine Mischung aus Ausstellungsraum Gemeindezentrum. Chicago hat einige solcher Orte zu bieten, an der Grenze zwischen Kunst, Kulturzentrum und Architektur. Die Expo Chicago ist ein perfekter Anlass, sich auf diese Orte einzulassen.