Erich Loest: Die Stasi war sein Eckermann
Christa Wolf schrieb moderner, Stefan Heym internationaler und Ulrich Plenzdorf der Jugend zugewandter. Das beste Buch jedoch über das Leben in der Deutschen Demokratischen Republik stammt von Erich Loest. Ein wahrhaftigeres Stück DDR-Literatur als seinen Roman „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ (1978) wird man kaum finden. Wer wissen will, wie der Alltag in Leipzig oder Karl-Marx-Stadt wirklich aussah, muss Loest lesen. Erst dann geht einem auf, wie viele faule Kompromisse andere Autoren gemacht haben.
Wolfgang Wülff ist ein Durchschnittstyp. Ingenieur ohne Ehrgeiz, genügsam, wenn man ihn in Ruhe lässt. Der Polizeihund, der ihn als Halbwüchsiger bei einer Demonstration gegen das Verbot einer Beatgruppe ansprang, verfolgt ihn Jahre später noch. Partei, Leistungsdruck, Karriere, letztere von seiner Frau eingefordert, sind ihm zuwider. Als Wülff im Schwimmbad einen Mann beobachtet, der seinen Sohn zum Leistungsschwimmer abrichten will, rastet er aus. Beschimpft den vorbildlichen DDR-Bürger als „gottverdammten Faschisten“. Vor Gericht kommt der Angeklagte glimpflich davon. Seine Frau schmeißt ihn raus. Beruflich tritt er einen weiteren Schritt zurück. Wülff lebt sein Leben, privatistisch, durchaus spießig, aber mit einem Rest an persönlicher Würde.
Vorwurf der "Standpunktlosigkeit"
All dies schildert Loest in „Es geht seinen Gang oder Mühen in unserer Ebene“ höchst lebendig, nah an den Menschen, mal ironisch, mal zotig, rundum gelungen: ein Kultbuch. So großartig konnte DDR-Literatur sein. Dass und wie der Roman (als Lizenz auch in Westdeutschland) nach leidvollen und mutigen Kämpfen des Autors gegen die Zensur erschien, gehört untrennbar zum Werk dazu. In der Publikation „Der vierte Zensor. Vom Entstehen und Sterben eines Romans in der DDR“ (1984) hat Loest penibel über alle Widrigkeiten und Schweinereien Buch geführt. Der Roman ist rasend schnell ausverkauft, spätere Auflagen werden, auch wegen des großen Zuspruchs in der Bevölkerung, verboten. Dies führt 1981 letztlich zur Ausreise des Schriftstellers in die BRD.
Geboren wurde Erich Loest 1926 im sächsischen Mittweida. Als sogenannter „Werwolf“ nahm er 1945 noch am Ende des Zweiten Weltkriegs teil, kurz zuvor war er der SS beigetreten. Nach dem Krieg arbeitete er zunächst als Journalist bei der Leipziger Volkszeitung, wurde nach seinem ersten Roman „Jungen die übrig blieben“ (1950) aber in die Produktion abkommandiert: Dem Buch über das Schicksal eines jugendlichen Hitler-Soldaten und seinem unpolitischen Herumtreiben in der Nachkriegszeit warf man „Standpunktlosigkeit“ vor. Alle anderen Werke seiner Frühzeit fand Loest später wegen ihrer kommunistischen Propaganda zurecht unerträglich, auf das Debüt war er stolz, weil es glaubwürdiger ist als viele der sogenannten „Wandlungsromane“ seiner Kollegen.
Die Grenzen der Selbstverleugnung
1953 bekommt Loest größere Probleme, weil er kritisch nach den wahren Ursachen des Aufstands vom 17. Juni fragt. Nach der geforderten Selbstkritik darf er in der Partei und im Schriftstellerverband bleiben; der XX. Parteitag der KPdSU und die Ereignisse in Polen und Ungarn aber rütteln Loest wieder auf. 1957 wird er wegen angeblicher „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ zu siebeneinhalb Jahren Haft in Bautzen verurteilt – und sitzt sie komplett ab, weil er zu einem Schuldeingeständnis nicht bereit ist. Nicht wenige Freunde und Schriftstellerkollegen lassen ihn fallen, und Erich Loest verliert seinen Glauben an den Kommunismus endgültig.
Nach der Entlassung möchte die Diktatur mit demokratischer Fassade den Schriftsteller befrieden. Unter den Pseudonymen Hans Walldorf und Waldemar Naß darf Loest Kriminal- und Abenteuerromane veröffentlichen, die ihm und seiner Familie den Broterwerb sichern. Irgendwann aber steht Loest vor dem Spiegel und weiß, dass es mit der Selbstverleugnung nicht weitergehen kann. Jetzt muss, koste es, was es wolle, wieder über das Leben in der DDR geschrieben werden: „Es geht seinen Gang“ entsteht. Nach dem Ärger um die Veröffentlichung hat Loest bereits ein weiteres Buch zur Hälfte fertig, den Roman „Völkerschlachtdenkmal“. Beenden wird er ihn in Osnabrück, seiner neuen Heimat.
Diagnose "Auslandtrauma"
Ende der siebziger und zu Beginn der achtziger Jahre ist Loest auf dem Höhepunkt seines Könnens. „Völkerschlachtdenkmal“, 1984 bei Hoffmann und Campe verlegt, ist ein irrwitziger Rückblick auf 150 Jahre Sachsen mit pikaresken Elementen. Alfred Linden, der wegen eines geplanten Bombenattentats auf das Leipziger Denkmal in der Psychiatrie sitzt, ist eine Art Oskar Matzerath der DDR und erzählt von der eigenen Familie und der sächsischen Historie: „Von heute aus gesehen sind wir ein bisschen Abfall, ein Rest an der falschen Seite, Peinlichkeit, Krätze der Geschichte“. Mit „Löwenstadt“ wird Loest 2009 eine Fortsetzung dieses Hauptwerks in die Nachwendezeit vorlegen.
Der Roman „Zwiebelmuster“ (1985) hält das Niveau. Ein linientreuer Verfasser historischer Prosa will endlich einmal in den Westen reisen. Deshalb sucht er neue Themen, für die er in München und Griechenland recherchieren muss. Als nach mühsamen Anläufen der Reiseantrag endlich bewilligt wird, bricht er an der Grenze zusammen: „Auslandtrauma“ diagnostizieren die Ärzte. Nach der Genesung darf er ein Buch über das weltberühmte Meißener Zwiebelmuster schreiben.
Während Loest in Bad Godesberg am Rhein seine neue Heimat findet, schwindet der direkte Bezug zur DDR immer mehr. Vom 9. Oktober in Leipzig und dem Mauerfall wird auch er überrascht. Den folgenden Romanen merkt man jetzt die nicht nur räumliche Entfernung an. In „Nikolaikirche“ (1995), seinem wohl bekanntesten und erfolgreich verfilmten Werk, treffen wir auf holzschnittartige Figuren: Loest kennt die Gesellschaft der DDR nicht mehr aus persönlicher Anschauung. Ein letztes Meisterwerk gelingt ihm jedoch, als er wieder zurückblickt. „Sommergewitter“ (2005) ist der bisher überzeugendste deutsche Roman über den Volksaufstand von 1953.
Mehr als dreißig Bücher
Ebenso bedeutend wie als Romancier war Loest bis zuletzt auch als öffentlicher Einmischer, unerbittlicher Kritiker, politischer Stichwortgeber. Im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Stasi-Verbrechen hat er stets Ross und Reiter genannt, für weniger bekannte Opfer gekämpft, konnte aber auch eigene Fehler eingestehen und schuldig Gewordenen vergeben. In „Der Zorn des Schafs“ hat Loest über die Bespitzelung durch den Staat, durch Kollegen und Nachbarn berichtet: Allein für die Zeit zwischen 1975 und 1981 existieren 31 Ordner zu 300 Seiten. „Die Stasi“, so betitelte der als „Autor II“ in den Akten geführte Loest ein weiteres Buch, „war mein Eckermann.“
Über dreißig Bücher hat der unermüdliche Autor seit 1950 geschrieben. „Man ist ja keine Achtzig mehr“ nannte er eine Auswahl aus seinen hochspannenden Tagebüchern, die 2011 herauskam. Mit Loest hat Deutschland einen seiner aufrichtigsten und größten Chronisten verloren, dessen brummige Unbestechlichkeit, gepaart mit bissigem Humor und Liebe zu den Menschen, fehlen werden.
Seit 1990 lebte er zum Teil und ab 1998 wieder ganz in Leipzig, seiner geliebten Stadt. Dort ist der literarische Grenzgänger Erich Loest am 12. September gestorben. Er stürzte sich aus einem Fenster der Uni-Klinik.