„My Salinger Year“: Verträumte Studie des Verlagswesens

Leichte Kost zum Auftakt des Filmfestivals: Der vor New-York-Nostalgie strotzende Eröffnungsfilm über J.D. Salingers Jugendroman „Der Fänger im Roggen“ bleibt jedoch hinter den Erwartungen zurück. 

Berlin-Große Schriftsteller zu ehren, gehört nicht zu den Hauptaufgaben eines Filmfestivals, aber es kann tolle Filme abwerfen. Um wen es geht, verrät schon der Titel des diesjährigen Eröffnungsfilms: Mit Philippe Falardeaus „My Salinger Year“ setzt Carlo Chatrian ein erstes Zeichen als neuer künstlerischer Leiter der Berlinale. Der Film um Leben oder besser Werk J. D. Salingers, von seinen wenigen Freunden Jerry genannt, wurde als Komödie angekündigt – und damit als leichter Einstieg in einen eher „düsteren“ Wettbewerb, an dem er verblüffenderweise oder auch folgerichtig gar nicht teilnimmt. Falardeaus verträumte Studie des Verlagswesens läuft als Berlinale Special – früher hätte man gesagt: außer Konkurrenz.

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Jerry? Joanna weiß im Gegensatz zu uns durchaus nicht, um wen es sich handelt. „Wir müssen über Jerry reden“, hat ihr die neue Chefin eingeschärft, Leiterin einer der bedeutendsten Literaturagenturen New Yorks Mitte der 90er-Jahre. Keine Adressen, keine Telefonnummern! Die junge Frau plant ihre ersten Schritte als Schriftstellerin, der Agenturjob dient nur der Überbrückung, doch wer zum Teufel ist dieser „Jerry“?

Die Macht des geschriebenen Wortes aus weiblicher Perspektive

Erst als sie die Bücher in den Regalen bemerkt und wenig später eine mysteriöse Stimme durch den Telefonhörer dringt, fällt der Groschen: Jerome D. Salinger, Autor des essenziellen Jugendromans „Der Fänger im Roggen“, seit seinem frühen Abtauchen vor der Öffentlichkeit das Phantom des amerikanischen Literaturbetriebs. Er ist noch am Leben. Und sie hat seine Fanpost zu beantworten – oder besser abzuwimmeln.

Der Bestseller der 1972 geborenen Autorin Joanna Rakoff, den der Kanadier Falardeau hier verfilmt, beruht auf deren Erlebnissen als Assistentin in der Agentur.

„My Salinger Year“, führt zurück in eine vordigitale Zeit, in der noch Schreibmaschinen, Faxgeräte und Kopierer – im Film buchstäblich – den Ton angaben. Damit gehe es auch um die Macht des geschriebenen Worts, und zwar aus einer jungen weiblichen Perspektive, mit der auch nachgewachsene Generationen etwas anfangen können.

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Die von Margaret Qualley gespielte Joanna wirkt zunächst nicht so, als ob sie mit Literatur überhaupt etwas anfangen könne. Wie eine New Yorker Amélie schleicht sie wundernd durch die heiligen Hallen der Agentur, die von ganz merkwürdigen Wesen bewohnt wird. Unter diesen ist Sigourney Weaver in der Rolle der strengen Chefin Margaret von Anfang an begeisternd. Durchweg rauchend, mit schrillen Blusen und einer grauen Susan-Sontag-Locke im Haar kostümiert, gibt sie Stil und Image der alten New Yorker Intelligenz anmutig wider – und versagt im Umgang mit diesem neuen „E-Web“ aufs Schönste.

Problematische, überladene New-York-Nostalgie

Ein Hang zu eleganter New-York-Nostalgie ist allerdings auch das große Problem dieses Films, der optisch eher an Woody Allen oder „Frühstück bei Tiffany“ erinnert als an die poppig-bunten 90er-Jahre. Zu den Stärken indes gehören visuelle Einspieler, in denen die meist jugendlichen Salinger-Fans ihre Briefe vortragen. Von einer unheilvollen Identifikation mit dem „Fänger“-Protagonisten Holden Caulfield bis zum kalkulierten Wunsch nach besseren Schulnoten ist alles dabei. Über den Umgang mit diesen rührend-verzweifelten Hilferufen, das ist die Story, findet auch Joanna zu ihrer eigenen Stimme.

Für einen Eröffnungsfilm jedoch ist das alles etwas mager. „My Salinger Year“ lässt sich allzu leicht einordnen in das in den letzten Jahren aufgekommene Subgenre der Salinger-Mythographie, das mit Titeln wie „Coming Through the Rye“ oder „Rebel in the Rye“ schnell beschrieben ist. Es verdankt seine Existenz weitestgehend der Tatsache, dass der erst 2010 im Alter von 91 Jahren verstorbene J. D. Salinger Verfilmungen seines Werks zeitlebens verbat. Im Film, das ist zumindest für Literaturfreunde schon wieder versöhnlich, hat er immerhin ein paar kleine Auftritte – und bleibt doch ein Geheimnis.