Ethnologisches Museum in Dahlem: „Im Herzen tanz’ ich“
Auf Walze Nummer 774 hört man die Stimme von Sambadialo. „Gott hat uns füreinander geschaffen“, singt er auf Bambara, eine Sprache die in Mali, Westafrika gesprochen wird. Ein Liebeslied. Die Aufnahme knistert. Sie ist während des Ersten Weltkriegs im Kriegsgefangenenlager Wünsdorf entstanden.
Der Soldat Sambadialo, der für die französischen Kolonialmacht kämpfte, war dort inhaftiert. Und er hatte womöglich in dem Fragebogen, den die 1915 ins Leben gerufene „Königlich Preußische Phonographische Kommission“ an alle Kriegsgefangenenlager in Deutschland verschickte, die Frage „Sind Sie bereit für eine Aufnahme zu singen?“ mit Ja beantwortet. Es entstand zwischen 1915 und 1919 auf diese Weise eine Sammlung von rund 1000 Aufnahmen. Es sind Lieder, die von Gefangenschaft und Freiheit handeln, von Liebe, Volkslieder, rituelle Lieder.
In dem Büro von Adelajda Merchán-Drazkowska über dem Ethnologischen Museum in Dahlem reichen die Regale bis unter die Decke. Sie stehen voll mit Pappkästen. „Kirgisen“ steht auf einem, Tunesier, Tataren, Armenier, Gurkha, Sikh. Angehörige all dieser Nationalitäten kämpften gegen die Deutschen. Die Kopie einer damals entstandenen Aufstellung aller hier vorkommenden Sprachen hat jemand an eine der Regalstreben gepinnt: Es sind mehr als 60.
Neben dem Schreibtisch der Musikwissenschaftlerin steht das Gerät, mit dem die Aufnahmen gemacht wurden und mit dem sie abgehört werden können. Es ist der von Thomas A. Edison entwickelte Phonograph, der wie eine Mischung aus Näh- und Schreibmaschine wirkt. Sein Herzstück ist ein Konus, auf den die Wachswalze gezogen wird, so dass sie sich unter der Nadel dreht. Der Ton kommt aus einem Trichter.
Wachs jedoch ist ein weicher Stoff. „Man weiß nicht genau, wie oft man eine Wachswalze abspielen kann, bevor man ihre Rillen zerstört hat“, sagt Merchán-Drazkowska. Deshalb sind aus den meisten Walzen Galvanos gemacht geworden, eine Art Negativ aus Kupfer. Dessen Rillen sind unzerstörbar. Man kann sie jedoch nicht abspielen, muss erst wieder eine Wachswalze herstellen. Das geschieht im Raum nebenan. „Walzengießerstube“ steht über der Tür. Man versteht, wie schwierig es bisher war, die Aufnahmen anzuhören. Das soll sich ändern.
Seit vergangenem Jahr gibt es das Projekt „Erschließung und Digitalisierung der Tonaufnahmen der Preußischen Phonographischen Kommission 1915-1918“, für das auch Adelajda Merchán-Drazkowska arbeitet. Sämtliche Aufnahmen sollen digital zugänglich gemacht, die dazugehörigen Unterlagen bearbeitet, Sprachen identifiziert, Liedtexte übersetzt werden. Die Ausstellung, die derzeit in Dahlem zu sehen ist, ist ein Produkt dieser Arbeit. Es ist das erste Mal, dass die Aufnahmen öffentlich gemacht werden.
Das liegt auch an der Geschichte der Sammlung. Während des Zweiten Weltkriegs wurde sie zunächst nach St. Petersburg gebracht. In den 1960er Jahren gab die Sowjetunion sie an Ost-Berlin. Nach dem Mauerfall ging sie zurück nach Dahlem und wurde mit den Unterlagen, die dort all die Zeit gelagert hatten, wiedervereinigt.
Doch zurück in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Merchán-Drazkowska erzählt, wie es zur Einrichtung der Kommission kam. Den Antrag stellte der Englischlehrer Wilhelm Doegen beim Kultusministerium. Er wollte ein Lautarchiv mit verschiedensten Sprachen aufbauen. Die 175 Kriegsgefangenenlager in Deutschland waren dafür eine Fundgrube. Vorsitzender der Kommission wurde Carl Stumpf, Professor für Psychologie an der Berliner Universität, der sich aber weniger für Sprachen, sondern für Musik interessierte. Unterstützt hat ihn der Musikwissenschaftler Georg Schünemann.
In der Ausstellung gibt es eine Installation, die die Entstehung der Aufnahmen zeigt. Es ist ein lebensgroßer Ausschnitt aus einem Foto, das 1915 in dem Kriegsgefangenenlager in Frankfurt an der Oder entstanden ist. Es zeigt Stumpf und Schünemann an einem Tisch, vor ihnen ein Phonograph dessen Trichter auf drei Männer in groben Kitteln gerichtet ist. Der jüngste hält eine Geige. Es sind Tataren. Tatsächlich gibt es Fotos von jedem Gefangenen, von dem Musikaufnahmen gemacht wurden. Sie sind jedoch verschollen.
Bilder gibt es in der Ausstellung trotzdem. Sie stammen vor allem von Otto Stiehl, dem Kommandanten des Kriegsgefangenenlagers Wünsdorf, ein Amateurfotograf. Viele seiner Fotos hat er in dem Band „Unsere Feinde“ veröffentlicht. Und doch sind seine Aufnahmen keine anthropologischen, es liegt kein Lineal neben Nase oder Kopf, wie es dem Zeitgeist entsprochen hätte. Es sind Portraits, die Menschen haben Namen. Man sieht das Gesicht von Dingal Singh aus dem Pendschab, ein stolzer Mann mit ergrauendem Vollbart und Turban. Der junge Haster Bir, ein Ghurka, blickt direkt in die Kamera. Aber das ist eine andere Geschichte.
In der Säule gegenüber von Stiehls Aufnahmen kann man ein von Albert Kujabo aus dem Kongo vorgetragenes Lied hören: „Sind die Kartoffeln fertig?“ Auch wenn man kein Wort versteht, hört man ein Zwiegespräch zwischen Mann und Frau. Kujabo hebt und senkt seine Stimme. So etwas kann nicht unter Zwang entstanden sein. Die Ausstellung versucht mögliche Einwände, dass diese Sammlung äußerst sensibel sei, und man womöglich unter diesen Umständen zustande Gekommenes gar nicht nutzen dürfe, gar nicht aufkommen zu lassen und lässt ausländische Musikwissenschaftler zu Wort kommen. Gila Flam aus Israel etwa. „Der Inhalt ist wichtiger als der Kontext“, sagt sie. Viele der Aufnahmen sind die ältesten, die es aus einem Land überhaupt gibt. Andere sprechen von wertvollen Entdeckungen, und davon, dass die Gefangenen das Interesse an ihnen und ihrer Kultur offenbar als Wertschätzung empfunden haben. Auch eine Notiz von Schünemann, weist in diese Richtung. Sie gehört zu Aufnahme 640, auf Malaiisch. Über den Vortragenden hat er notiert: „Bewegt sich stark beim Singen, wirft den Kopf hin und her, ’im Herzen tanz’ ich’ sagt er beim Hineinsingen.“
Phonographierte Klänge – photogra-phierte Momente. Ton- und Bilddokumente aus deutschen Kriegsgefangenenlagern im Ersten Weltkrieg. Bis 6. April 2015, Museen Dahlem