„Falstaff“ in der Komischen Oper in Berlin: Hochgeworfene Männerbeine

Guiseppe Verdis Oper „Falstaff“ in der Komischen Oper trägt unverkennbar den Stempel Barry Koskys.

James Kryshak, Jens Larsen, Günter Papendell, Ivan Tursic und Oleksiy Palchykov in Guiseppe Verdis Oper „Falstaff“ in der Komischen Oper.
James Kryshak, Jens Larsen, Günter Papendell, Ivan Tursic und Oleksiy Palchykov in Guiseppe Verdis Oper „Falstaff“ in der Komischen Oper.imago images

Der alte Giuseppe Verdi befasste sich mit sonderbaren Spielereien. Der größte Tragiker des Musiktheaters begann Fugen zu schreiben, er widmete sich einer „scala enigmatica“, einer rätselhaften Tonleiter, die er harmonisierte und mit „Ave Maria“ textierte, er komponierte Kirchenmusik. Und als er dann doch noch einmal mit weit über 70 eine Oper begann, tat er das im Bewusstsein, sie eventuell nicht mehr beenden zu können, er hatte zuweilen den Eindruck, er komponiere den „Falstaff“ zum eigenen Vergnügen und Zeitvertreib.

Die Oper wurde fertig, und immer wieder wurde bestaunt, dass der alte Mann sowohl einen brillanten Fachwechsel zur Komödie hinlegte, als auch kompositorisch völlig neue Pfade beschritt: Hatten ihn einige bei seiner vorigen Oper, dem „Otello“, als Wagner-Epigonen geschmäht, so wählte er nun ein Tempo, eine Helligkeit und diatonische Klarheit, die vollkommen neuartig war.

Spontaneität, Kalkül und der musikalisch-diskursive Eigenwille des „Falstaff“ finden vielleicht nur in Mozart ein Gegenüber. Vor allem aber hatte Verdi offenbar einen objektiven Blick bekommen: Fugen, Harmonieaufgaben, die Oper zum eigenen Vergnügen – es ging nicht mehr um die große tragödische Gefühlsmanipulation, sondern um eine geistige Auseinandersetzung mit der Musik. Deswegen auch die Form der Komödie, die den Geist adressiert, weniger das Gefühl.

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Mit typischen Kosky-Handgriffen

Barrie Kosky hat den „Falstaff“ 2021 in Aix-en-Provence inszeniert, am Samstag wurde diese Produktion an der Komischen Oper vorgestellt. Es ist zweifellos eine hervorragende Inszenierung. Aber in manchen Momenten knallt der Kosky-Stempel so unverkennbar auf das Werk, dass doch eine gewisse Unstimmigkeit entsteht zwischen der „Objektivität“ des Werks und den typischen Kosky-Handgriffen. Verdi hatte sich vom „Falstaff“-Stoff in der genialen Bearbeitung seines Librettisten Arrigo Boito weit von seinen Klischees forttragen lassen. Kosky ließ sich nicht forttragen.

Das fällt vor allem deswegen auf, weil nach zwei sehr guten Akten der dritte mit der Szene im nächtlichen Wald das übliche Revue-Spektakel mit hochgeworfenen Männerbeinen abfeiert, die Regie also mit etwas endet, was gefühlt in jeder Kosky-Inszenierung vorkommt. Nun gut, hier muss ja Dr. Cajus auch erkennen, dass er nicht wie gewünscht mit Nanetta verheiratet wurde, sondern mit Falstaffs Diener Bardolfo – wenn das kein Grund ist, die Männerbeine hochzuwerfen, was dann? Aber deswegen überrascht es eben auch nicht. Es fühlt sich an, als würden einem gewaltsam die Mundwinkel hochgerissen, statt dass man wirklich zum Lachen gebracht wird.

Das ist keine Kleinigkeit – aber darüber darf man die Verdienste der Produktion nicht vergessen: Falstaff ist bei Kosky in erster Linie ein Gourmet, kein verfressener Lüstling. Scott Hendricks singt ihn lebendig und vielseitig, mit kraftvollem, nie angestrengtem Bariton. Dass sein Singen indes italienische Gesanglichkeit vermissen lässt, fällt nicht nur bei ihm auf und ist vielleicht eine Entscheidung der musikalischen Leitung – dazu später mehr.

Wir sehen Falstaff am Anfang kochend in einer von Katrin Lea Tag entworfenen, eher tristen, mit Anna-Viebrock-Anmutung tapezierten Taverne. Er ist ein Genießer prolligen Typs, vor allem als er uns endlich seine Rückseite und den – auch Kosky-typischen – nackten Arsch zeigt. Seine beiden „Diener“ sind hier reichlich minderbemittelte und ziemlich unselbstständige Kumpels; da leuchtet es nicht ganz ein, dass sie gegen ihn intrigieren. James Kryshak und Jens Larsen fallen eher schauspielerisch als sängerisch auf. Die Inszenierung hat Witz, ohne überladen zu sein. Auch später, in den großen Ensembles ist sie überaus virtuos. Zauberhaft etwa, wie sich das junge Paar Nanetta und Fenton – gesungen von Alma Sadé und Oleksiy Palchykov – immer wieder aus den Zusammenhängen löst und miteinander fummelt. Da kommt auch Nanettas Mutter Alice Ford, gesungen von Rusan Mantashyan, nicht mehr hinterher.

Koskys Inszenierung lässt die „Falstaff“-Pappkameraden, den dicken Sir John, den spießigen Ford, die raffinierten Frauen, vergessen – ihm gelingt ihre Auferweckung als ernst zu nehmende – und dadurch umso komischere Menschen.

Die letzte Produktion des Generalmusikdirektors Ainārs Rubiķis

Dabei ebnen Koskys Ensembles gerade in ihrer Virtuosität die einzelnen Leistungen auch ein wenig ein. Gegen Scott Hendricks Falstaff kann sich nur Günter Papendell als Ford behaupten; natürlich ist er ein komischer Charakter, aber Kosky und Papendell verspotten ihn eher milde. Auch für seinen Gesang gilt das Obengesagte: Er ist sprechend, ohne als vokale Leistung aufzufallen.

Gewiss fällt Verdis letzte Oper nicht durch melodische Offenbarungen auf. Aber das Moment des stimmlichen Wohlklangs deswegen auf ein Dauerparlando zu reduzieren, wirkt als interpretatorische Generalentscheidung gelinde gesagt redundant. Es war die letzte Produktion, die der scheidende Generalmusikdirektor Ainārs Rubiķis einstudiert hat. Das ist alles schlüssig angelegt, vollzieht die musikalischen Verästelungen lebendig nach, wird aber den bei Rubiķis wie immer zu beklagenden musikalischen Überdruck nicht los. Schaut man in den Graben hinein, gestikuliert Rubiķis wild in alle Richtungen, statt der Sache mal Luft und die Musik entstehen zu lassen.

Dass das fabelhafte Orchester der Komischen Oper unter dieser Leitung oft zu laut und hart spielt, ist das eine. Dass sich die Sängerinnen und Sänger davon vermutlich nicht getragen, sondern eher eingebaut fühlen, das andere. Umso mehr ist die Leistung des von David Cavelius wie immer hervorragend einstudierten Chores zu rühmen – er singt nicht viel, aber das wenige sitzt.