Festival in Berlin: Club Transmediale - bloß nicht die Ohren zuhalten!

Die Versuchsanordnung im HAU 1 sah aus wie das Labor eines verrückten Wissenschaftlers. Von den Theaterrängen herab blickte man auf Schaltpulte mit zahllosen Kabeln, Reglern und Knöpfen, ein paar Laptops auf Tischen. Schreibtischlampen, Mikrophone und ein kleines, mit viel Blech ausgestattetes Schlagzeugset. „Einige von Ihnen werden gleich ein stechendes Geräusch in den Ohren bemerken. Sie sollten sie sich nicht zuhalten, denn das würde den Effekt verderben“, sagte ein Moderator auf der Bühne.

Der niederlänische Klangkünstler Thomas Ankersmit nahm an einem der Pulte Platz. Das Saallicht erlosch und bald war ein durchdringender, schriller Testton zu hören. Er klang wie ein unerbittliches Zahnarztinstrument und fühlte sich an wie ein böser Tinnitus, den man vergebens wegzuwischen versuchte. Man hatte den Eindruck, er würde ewige 20 Minuten dauern. Und das tat er auch, unterbrochen nur von einer Strecke aus niederfrequentem Brummen, dessen konvergierende Sinuswellen einen nicht unangenehmen, kraulenden Effekt im Hirn hervorriefen.

Halluzinatorische Dröhnung

Ankersmits Auftritt war einer von dreien, mit denen am Sonnabend das CTM-Festival „für abenteuerliche Musik und Kunst“ eröffnete. Einst Rahmenprogramm des Medienfestivals Transmediale hat es sich seit 1999 zu einer eigenständigen, auch international strahlenden Veranstaltung entwickelt. „Un Tune“, also ungefähr „ent-stimmen“, lautet das Motto der diesjährigen Ausgabe, die noch bis zum 1. Februar durch die Clubs der Stadt brummt und dröhnt. Es geht dabei, schreibt Jan Rohlf, einer der Mitgründer des Festivals im Katalog, um die Auswirkungen von Frequenzen, Klang und Musik auf den Körper, darum wie „vor-bewusste, psycho-physiologische Affekte die Wahrnehmung und Interpretation von Klang und Musik beeinflussen“.

So entstehen Ankersmits Foltergeräusche als sogenannte otoakustische Emissionen: Sie werden von Ankersmits retrofuturistischem, analogem Serge-Synthesizer stimuliert mit Tönen, die oft jenseits oder am Rand der Wahrnehmbarkeit vibirieren. Der Sound selbst wird im Innenohr des Hörers verstärkt und produziert – gewissermaßen eine Klanghalluzination. Bewegte man den Kopf nur eine Nuance, veränderten sich Textur und Höhe des Klangs entscheidend, weshalb man die Köpfe im ausverkauften Saal stets fröhlich wackeln sah, auf der Suche nach dem individuellen Klangerlebnis – oder nach einer Möglichkeit, dem beunruhigenden Fiepen im Ohr zu entkommen.

Gegenüber dieser Vorführung blieb der Versuch von Rose Kallal und Mark O. Pilkington, einen „desorientierenden Bewusstseinsstrom“ zu schaffen, eher blass. Sie produzierten gewittrig dröhnende, zischende oder hölzern klonkende Geräusche und zeigten dazu Filmschlaufen aus grafischen Mustern sowie einer knautschend morphenden, abstrakten Figur. Man verfolgte die nicht-linearen Bildfolgen und Sounds interessiert, aber keineswegs strömend verwirrt. Körper und Geist haben sich über die Jahre vielleicht zu sehr an derlei Inszenierung gewöhnt.

Blutige Horrormomente, blasphemische Jesusfiguren

Zentrum des Abends und sein Höhepunkt war aber ohnehin die Weltpremiere von „A Memoir of Disintegration“, einem Projekt des New Yorker Soundwalk Collectives nach Texten des 1992 an Aids gestorbenen Lower-East-Side-Avantgardisten David Wojnarowicz.

Dazu steuerte die Künstlerin Tina Frank eine mehrschichtige Film-Collage bei, in der sich ihre blubbernd schmelzenden Stadtansichten zwischen Stacheldraht und Kontrollscheinwerfern und glitzenden Panoramen mit Ausschnitten aus Wojnarowicz’ verstörendem „Where Evil Dwells“ verbanden. Man sah blutige Horrormomente, blasphemische Jesusfiguren, eine Gruppenvergewaltigung und schwule Liebesszenen. Nan Goldin, die Fotografin des Achtziger-Undergrounds, las im prächtig-lakonischen William-Burroughs-Tonfall aus den Erinnerungen des Outsider-Künstlers an den gewalttätigen Vater, an erotische Begegnungen, den Selbstmord eines Freundes, die fürchterliche Allgegenwart des Virus und die zunehmend routinierte Reaktion darauf.

Zu den Soundwalk-Geräuschen aus New York improvisierte der großartige Drummer Samuel Rohrer. Leise und lose jazzig zu Beginn verdichteten sich elektronische Geräusche und analoge Percussion langsam zu einem schweren Soundtrack, der an Bill Laswells Ambient-Dubs aus den frühen Neunzigern erinnerte. Der historische Zusammenhang bestimmte natürlich die Atmosphäre, aber über den Retromoment hinaus entstand eine eindringliche, stechend suggestive Reflektion über die Dissonanzen von Politik und Geschichte, die unterschwellige, im Festivalsinne verstimmte Erzählstränge im Bewusstsein der Zuhörer triggern.