Festival Theater der Dinge: Die Schaubude entdeckt den Kasper wieder
Ohne kuratorische Schwafelvorlage kein Theater mehr. Das gilt wohl erst recht beim komplexgebeutelten Puppentheater. Schließlich wird diese Kunst traditionell als Tritratrallala- und Hau-das-Krokodil-Kinderbespaßung niedriggeachtet. So erfindet Tim Sandweg, der als künstlerischer Leiter der Schaubude das Theater-der-Dinge-Festival ausrichtet, alljährlich ein ausschlachtbares und fördermittelantragslukratives Motto.
In diesem Jahr hat er sich dabei besonders herausgefordert, weil ihm ausgerechnet der Kasper wieder eingefallen ist. Den kann man natürlich nicht einfach ohne diskursiven Überbau ins Theater lassen, deshalb lautete die Überschrift: „Rebel Boy“, und natürlich musste die Rebellion nicht nur gegenwartskritisch, sondern bitte auch selbstreflexiv durchdekliniert werden.
Korrumpierte Rebellion
Da wird nach der politischen Verortung des satirischen Volkstheaters gefragt, nach der Punk-Attitüde des Kaspers, nach der besonderen Dringlichkeit dieses Theaters in Ländern, die sich in „gesellschaftlichen Transformationen befinden“ und nach der in Berlin, wo jede Rebellion sofort als T-Shirt-Motiv vermarktet wird. Natürlich wird auch die rebellische Haltung des durch Subventionen korrumpierten Theatermachens in Frage gestellt − zumal man just die Rebellion zur Marketingstrategie eines Festivals gemacht hat.
Der Akt der institutionsinternen Rebellion bestand dann darin, sich mit Sindy Schwermer eine assoziierende künstlerische Leiterin an die Seite zu holen, die sich mit kuratorischem Schnittstellen-, Spannungsfeld- und Interventionsgelaber bestens auskennt.
Chance für Waschinsky
Diese Vorlage und das volle Foyer des kleinen Theaters am S-Bahnhof Greifswalder Straße nutzte Peter Waschinsky, der Traditionsrebell unter den Puppenspielern, um sich in einer angemeldeten Spontan-Theaterbesetzung einen Kasperkopf auf den einen und einen Polizistenkopf auf den anderen Zeigefinger zu stecken − und mittels eines vergleichsweise gigantischen Astes und gewaltverherrlichender Holz-auf-Holz-Geräusche daran zu erinnern, dass er schon seit ungefähr 248 Jahren für diese ewig und einzig gültige Kaspertheaterkunst streitet.
Womit wir wieder bei den Minderwertigkeitsgefühlen sind, von denen zu Beginn dieses Textes die Rede war. Entsprechend genervt rollte das internationale, komplexerfahrene Puppenspieler-Szenepublikum die Augen.
Zehn Minuten schwerster Trauer
Schön, mit welcher Selbstverständlichkeit dann das Theater selbst funktioniert. Und zwar gerade auch unter mutigem Verzicht auf jegliche dramaturgische Stringenz, wie etwa in der Premiere zur Eröffnung, die die Gebrüder Menzel und Söhne (bestehend aus dem Handpuppenvirtuosen Hans-Jochen Menzel und seiner Tochter Anna) völlig ungeniert „Kasper Unser“ nennen und in dem erst einmal zehn Minuten geweint, ach was: geheult, geschrien, gejammert, geschluchzt wird − mit konvulsivischem Tremolo und wohlgesetzten Verpuste- und Neuanlaufpausen (Regie: Astrid Griesbach).
Gretel ist tot. Und das bedeutet neben dem vielleicht noch aushaltbaren Witwer-Unglück vor allem, dass jetzt Unmengen von Büroarbeit an dem alt und fett gewordenen Kasper hängenbleiben.
Dazu kommen die nicht weniger vertrottelten Mitarbeiter: das nur halbwegs integrierte Krokodil, dem man nicht anmerken darf, dass es kein Mensch ist; der schwule Seppel, der glaubt, sich ohne jegliche Qualifikation um alles kümmern zu dürfen; Kaspers Großmutter, die als nebenberuflicher Tod ihre rheinische Unfrohnatur auslebt. Und in der Kantine − da lacht der Dramaturg − fertigt der legasthenische Teufel Konzepte aus.
Das fiese Lächeln des Tonklumpens
Auch der abgegriffenste Selbstbespiegelungsspaß wird bei so einem Charakterdarsteller wie dem von Magdalena Roth geformten und von Hans-Jochen Menzel animierten Kasperkopp zur doppelbödigen Abgrundsweisheit. Und natürlich besteht die Hauptattraktion des Ganzen im guten alten Wunder der Lebendigwerdung.
Was in der herkömmlichen Wirklichkeit ein starrer Tonklumpen sein müsste, beginnt im Griff der Theatersituation und der emotionalen Erfordernisse sein Gesicht in entsprechende Falten zu legen: Was eben noch ein schmerzverzerrtes Klagegesicht war, kann einen Augenblick später eine fiese Lächelfresse sein. Ein Memento mori und vivendi, das, egal wovon das Stück an seiner Oberfläche handeln mag, an den Urgrund des Theaters und mithin des Menschseins rührt.
Pandabär und die Wirbelknochen
Der Slowene Matija Solce weiß dieses Wunder für sein Stück „Happy Bones“, das neben vielen anderen am zweiten Festivaltag gezeigt wurde, auszubeuten. Er trägt einen Kindersarg auf die Bühne, mit Knochen darin, setzt einen kleinen Pandabären drauf und erschießt sich, was die Hinterbliebenen in keiner Weise davon abhält, ein Eigenleben zu entwickeln.
Der Bär als abgebrüht-traumverlorener Weltbestauner mit zwei postmortalen, aber ungeheuer beweglichen Puppenspielerhänden im Hintern und die Knochen als dadasprachliche reptilische Urviecher mit einem langen Finger dort, wo einst die Nervenstränge eines schon lange vermoderten Rückenmarks pulsierten. Also: Es gibt ein Spiel nach dem Geschwafel und − auch tröstlich − ein Leben nach dem Tod.
Theater der Dinge noch bis 17. Oktober in der Schaubude, Greifswalder Str. 81, Tel.: 4234314 oder www.schaubude.berlin