Fiktionale Kanzlerin: Konstantin Richter macht Angela Merkel zu einer Romanfigur

Der Roman spielt zwischen den Festspielen von Bayreuth 2015 und Bayreuth 2016. 2015 erlitt die Kanzlerin dort eine kleine Ohnmacht. Dann kamen die Flüchtlinge, die sie zunächst nicht sonderlich interessierten. Als sie aber die Fotos der toten Kinder sah, da fand sie die Worte: „Wir schaffen das“. Als dann immer mehr kamen und immer mehr in der Bundesrepublik sich für ein rigoroses Einmauern aussprachen, da schwenkte die Kanzlerin wieder um.

Diese Geschichte wird inzwischen in zahlreichen Varianten erzählt. Der preisgekrönte Reporter Konstantin Richter hat sich für einen Roman entschieden. Man versteht schnell warum und möchte das Buch beiseitelegen.

Die Kanzlerin denkt

Merkel hört entweder Musik und denkt dabei nach, oder sie steht an einem Fenster, schaut hinaus und denkt dabei nach, oder sie lässt die anderen reden und denkt dabei nach. Kein Mensch weiß, was der andere denkt. Das ist die Grundregel aller Kommunikation. Darum und dagegen wurde der allwissende Erzähler erfunden. Er schaut in den Gehirnkasten seiner Helden und erzählt uns, was dort abläuft.

Das ist toll. Jedes Kind hat daran Vergnügen. Die Sache wird nur leicht langweilig, wenn die erfundene Frau Merkel genau das denkt, was die reale Frau Merkel an exakt derselben Stelle gesagt hat. Spaß macht die Sache doch erst dann, wenn sie uns von der Realität befreit.

Es gibt gleich zu Beginn eine Stelle, an der ich dachte, ah, die Sache kriegt Schwung: „Die Kanzlerin presste den Po gegen die Lehne des Stuhls, um aufrecht zu sitzen, wenn das Vorspiel begann.“ Sie verstehen: Po und Vorspiel? Sie finden das albern, pubertär?

Ein Problem pro Aufzug

Richtig. Aber besser als zum Beispiel der allererste Satz: „Die Kanzlerin hatte sich vorgenommen, die ruhigeren Passagen von Tristan und Isolde zu nutzen, um über ein paar Dinge nachzudenken. Im Ersten Aufzug wollte sie das Griechenland-Hilfspaket behandeln. Im Zweiten Aufzug würde sie sich den hohen Asylbewerberzahlen widmen. Und im Dritten Aufzug hätte sie vor dem Liebestod bestimmt noch ein paar Minuten, um ein weiteres Mal die Minsker Vereinbarung durchzugehen, die den Frieden in der Ostukraine sichern sollte.“

Genau das tut sie dann auch. So ist gewährleistet, dass auch der flüchtige Leser mitbekommt, wie feinfühlig der Autor sich einliest in die Gehirnströme der Kanzlerin.

Nicht auf den Leib rücken

Und um die geht es. Ihr Körper spielt so gut wie keine Rolle in diesem Buch. Das hätte mir schon bei der frühen Stelle aufgehen könnte. Sie presste nämlich nicht ihren, sondern den Po gegen die Lehne des Stuhls. „Ihren Po“ – damit wäre Richter seiner Heldin auf den Leib gerückt. Genau das wollte er aber nicht.

Er interessiert sich nur für ihre Gedanken. Natürlich interessiert er sich nicht wirklich für ihre Gedanken. Er interessiert sich für seine Gedanken. Für die, die er sich über die ihrigen macht. Das ist, denken Sie, nicht abendfüllend? Jedenfalls reizt es Sie nicht, was Konstantin Richter darüber denkt, was die Kanzlerin denkt? Wen interessiert das schon? Wen interessiert überhaupt, was ein anderer darüber denkt, was ein anderer denkt?

Im Kopf des Anderen

Die Wahrheit ist: So funktioniert Denken. Richter führt uns vor, was wir tun. In Gesprächen, in Artikeln in sogenannten Analysen. Wir kriechen hinein in die Protagonisten und tun so, als würden wir uns ihren Kopf zerbrechen. Wir wissen nicht, ob wir es gerne machen. Wir tun es einfach. Unentwegt.

Wer ein Vorstellungsgespräch hat, der überlegt sich, was er sagt und er überlegt sich, was der andere sagt und wenn er es hinter sich hat, dann überlegt er, was er hätte sagen können und was der andere dann gesagt hätte.

So rattert es unentwegt in unserem Kopf. Oft kriegen wir es nicht einmal mit. Die Verdoppelung meiner Gedanken über das, was Angela Merkel denkt durch das, was Richter denkt, was Merkel denkt, nervt. Aber dass sie mich nervt, ist nicht ohne Komik. Zeigt sie doch, dass man in seinen Gedanken nicht gestört werden möchte, nicht einmal von anderen Gedanken.

Kein Anspruch auf Wahrheit

Das Spiel wäre sofort anders, wenn Richter dem Buch nicht diese Bemerkung vorangestellt hätte: „Dies ist ein Roman und damit Fiktion und keine Dokumentation tatsächlicher Geschehnisse. Das Buch erhebt also in keiner Weise den Anspruch, die geschilderten Vorgänge könnten wahr sein und sich so zugetragen haben.“ Hätte er den Anspruch, dann könnte ich mit ihm darüber diskutieren, wo er ihn zu Recht hat und wo nicht. Wo etwas stimmt und wo nicht. Man könnte dort, wo man es nicht genau weiß, Plausibilitäten abwägen.

So aber ist das alles ausgeschlossen. Was er schreibt, ist richtig. Nicht, weil es wahr ist, sondern weil es dezidiert nicht wahr ist. Seine Merkel wohnt, wo die echte wohnt, sie arbeitet, wo die echte arbeitet, sie sagt Sätze, die die echte sagt, aber sie ist es nicht. Niemand weiß, wo seine Merkel beginnt und wo die echte aufhört. Das ist ein Spaß, wenn man sich darauf einlässt. Aber Merkel als reiner, körperfreier Gedanke – das ist zu feige, um ein Roman zu sein.