Als Eugen Ruge vor sechs Jahren seinen großen Familienroman „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ veröffentlichte, erklärte er ihn vorsichtshalber gleich selbst für unverfilmbar. Damit war er fein raus. Sollten sich doch andere den Kopf darüber zerbrechen, wie sich seine ein ganzes Jahrhundert umspannende Erzählung in das fernsehgeförderte Korsett eines Neunzigminüters pressen lassen würde.
Nun also, da geschehen ist, was der Autor für unmöglich hielt, muss man sagen, er hat recht behalten. Dass „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ dennoch ein wunderbarer Film geworden ist, verdankt sich der Tatsache, dass Regisseur Matti Geschonneck und zu allererst natürlich der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase gar nicht erst versucht haben, Eugen Ruges Roman als solchen zu verfilmen. Sie haben das Material zu einem Werk von eigener Kraft und Schönheit geformt. Und von einem feinen Humor.
Der große Erzähler
Wolfgang Kohlhaase, vor kurzem 86 Jahre alt geworden, hat sich mit diesem Drehbuch noch einmal als jener große Erzähler des deutschen Kinos bewiesen, der er seit mehr als einem halben Jahrhundert ist. Die Handlung, die bei Ruge in Vor-und Rückblenden durch die Geschichte zweier Diktaturen und über Schauplätze von Mexiko bis Sibirien mäandert, komprimiert Kohlhaase auf einen einzigen Tag.
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Es ist der 1. Oktober 1989, eine alte Villa in Ostberlin, Wilhelms neunzigster Geburtstag. Genosse Powileit (Bruno Ganz), einst im Widerstand gegen die Nazis, heute im Widerstand gegen seine Frau Charlotte (Hildegard Schmahl), bereitet sich auf die üblichen Huldigungen vor. An dieser Stelle schon mal ein Wort zur Besetzung des Ensemblefilms, sie ist einfach großartig.
Ausgerechnet Bruno Ganz
Die Entscheidung, den gebürtigen Schweizer Bruno Ganz mit der Rolle des SED-Wilhelm zu betrauen, obwohl jetzt vermutlich ein halbes Dutzend Ostkollegen beleidigt ist, war genau richtig. Ganz ist nicht nur ein grandioser Schauspieler, er gibt dem Wilhelm auch jene arrogant-charmante Weltläufigkeit, die diese Figur mit ihrer Erfahrung ausmachen muss.
Jedes Jahr kriegt Wilhelm einen neuen Orden, den er dann in eine Schatulle mit dem Blech von früher wirft. Er rasiert sich, nimmt ein bisschen Höhensonne, die Gesichtsbräune lässt ihn lebendiger wirken, denkt er. Obwohl er weiß, dass er im Grunde schon tot ist.
Das Gift der Schranzen
Er steckt sich das Parteiabzeichen an, ächzt die Treppe hinab und rekognosziert den Schauplatz seiner letzten Schlacht. Hier, in seinem eigenen Haus, werden ihn die Schranzen mit ihren falschen Worten zugrunde richten. Falls ihn nicht schon Charlotte vergiftet.
„Genau vor fünfzig Jahren sind wir in Mexiko angekommen, an deinem Geburtstag“, sagt sie zu ihm. Mit nur einem Satz wirft Kohlhaase hier das Tiefenlot aus. Solche Momente, in denen das Kammerspiel durch eine fast nebenher gesprochene Bemerkung oder ein bestimmtes Requisit eine historische Perspektive gewinnt, gibt es in dem Film immer wieder. Das macht in dieser Adaption die große Kunst von Buch und Regie aus. Dabei bleiben Bezüge und Verweise durchaus offen. Es wird nicht alles erklärt. Wer es genauer wissen will, muss das Buch lesen.
Exil und Straflager
Mexiko, das sind die Jahre im mexikanischen Exil. Eugen Ruge, Jahrgang 1954, greift in seinem Epochenroman auf die Geschichte seiner Familie zurück. Im Buch sind es Wilhelm und Charlotte, überzeugte Kommunisten, die aus dem mexikanischen Exil in die junge DDR zurückkehren. Ruges alter ego Kurt (Sylvester Groth) war als junger Mann nach Moskau emigriert und wurde von dort aus aufgrund obskurer Anschuldigungen in ein stalinistisches Straflager verschleppt.
Mit seiner Frau Irina (Evgenia Dodina) und ihrem gemeinsamen Sohn Sascha geht er nach Ostberlin, wo er sich mit den Kleingeistern arrangiert, um sich zugleich ironisch von ihnen zu distanzieren. So lebt er bis zum 89er Herbst in einer Doppelexistenz. Sylvester Groth spielt den Kurt mit jenem müden, leicht magenkranken Ausdruck der späten DDR. Auf seinen Sascha warten sie nun alle bei Wilhelm. Aber Sascha kommt nicht mehr. Er ist im Westen.
Alter Mann im Ohrensessel
Wer kommt, das sind die Partei, die Gewerkschaft, die Nachbarn, die Volkspolizei, die Sicherheit. In knappen Szenen, wie hingetupft, wird die Absurdität, Verlogenheit und auch Tragik des Sozialismus Wilhelm’scher Prägung auf kleiner Bühne vorgeführt. Der alte Mann sitzt in seinem Ohrensessel und hört sich an, was die anderen über ihn sagen. „Das ist mein Leben. Aber so war es nicht.“ Hier wird nicht nur die Lüge eines Lebens begraben, sondern ein Zeitalter.
Und doch ist das kein bitterer Film, oft wird es sehr komisch. Der Brigadier vom Molkereikombinat fasst das ökonomische Konzept der DDR in einem lehrbuchreifen Satz zusammen: „Das Ziel ist Ostkäse, der wie Westkäse schmeckt.“
Die Tage werden länger
Am Ende geht der Blick hinaus ins Offene. Im fernen Sibirien treffen sich die Überbleibsel der Familie zu einer Beerdigung. Der Herbst ist gegangen, die Zeit des abnehmenden Lichtes ist vorbei. „Haben wir alles verdorben?“, fragt sich der Erzähler. Nun, zumindest werden die Tage jetzt erstmal wieder länger.