Filmkritik: Leistung zählt? Ein schlechter Witz!
Eine karrieristische Kröte, diese Sonni! Schläft mit ihrem eigenen Professor, einem dreißig Jahre älteren Mann, um ihren Aufstieg zu sichern; ist fasziniert von Machtspielchen, die sie in Seminaren übt („Wie feuert man Mitarbeiter und strahlt dabei Selbstbewusstsein aus?“) und rotzt ihrem Vater, der ihr gerade ein Kleid gekauft hat, in die Seele: „Wie du da heute aufgekreuzt bist vor der Uni, mit deinem abgetragenen Regenschirm! Richtig geschämt habe ich mich da für dich. Geschämt, dass du mein Vater bist“. Peng! Da schallert ihr der Papa eine. Diese seelisch verrottete Göre hat es verdient! Der Schauspielerin Anne Müller muss man gratulieren zu ihrem Mut, solch ein Miststück von Tochter zu spielen.
Constanze Knoche hat in ihrem Film „Die Besucher“ Kinder erfunden, die man nicht geschenkt haben möchte. Schrecklich überzeugend spielt Jakob Diehl den Bruder Arnolt als depressiven Egozentriker. Er findet alles absurd, quält seine herzensgute Freundin Katharina (man möchte Irina Potapenko sofort in den Arm nehmen für ihr wohltuendes Leuchten inmitten dieser Seelenfinsternis) mit ewigem Selbstekel und nimmt Geld von den Eltern, denen er verschweigt, dass er sein Chemiestudium abgebrochen hat. Karla, Arnolts und Sonnis Schwester, arbeitet in einer Gärtnerei, nicht aus Gelassenheit, sondern aus Aufstiegsverweigerung und Eifersucht auf die beiden Geschwister, denen sie beweisen will, dass sie ohne Mamas und Papas Geld leben kann. Anjorka Strechel gibt dieser Karla die Züge einer humorlosen Pippi Langstrumpf, die aus Gnatz rebelliert und glaubt, jedem die Wahrheit gleichsam in die Fresse schlagen zu können.
Was ist los in dieser Familie? Der Vater Jakob (mit zermürbter Fürsorglichkeit: Uwe Kockisch) hatte als junger Mann eine Chemiefabrik aufgebaut und ist nun, mit 59 Jahren, entlassen worden. Er fährt nach Berlin, um seinen Kindern, die dort leben, zu sagen, dass er sie nicht mehr wie bislang unterstützen kann. Seine Frau Hanna, der Corinna Kirchhoff ein leises, wirkungsvolles Selbstbewusstsein gibt, arbeitet noch als Laborantin im Schichtdienst. Sie sieht die Geldverknappung weniger schuldbewusst als ihr Mann (den sie seit Jahren betrügt) und sagt: „Ich bin jetzt 53. Wenn ich Glück habe, bleiben mir noch zwanzig Jahre, um unbeschwert zu leben. Die möchte ich nicht damit verbringen, mich abzurackern, um die Selbstverwirklichungsträume meiner Kinder zu finanzieren“.
Mit einer kontrastreichen Charakterprofilierung, einer exzellenten Ensembleleistung und einer komplexen Verknüpfung von Ökonomie und Familie ist „Die Besucher“ ein strenger, außergewöhnlicher Film geworden. Ohne formale Mätzchen wird die psychologische Abrechnung für dreißig Jahre Missverständnisse verwoben mit der Analyse einer Gesellschaft, die Leistung ausschließlich als Sachwert begreift, der sich in Geld beziffern lässt, und sie nicht mehr an eine Person knüpft, die diese Leistung verkörpert. Damit wird der Mensch – hier der Vater – wertlos und die Leistung asozial. Sie löst sich vom Leistenden ab, führt nicht mehr zu Respekt und Status. Wo die Erziehung genau auf diese Selbstwertdefinition durch Leistung aus war, verliert sie nun ihre Legitimität. Zurück bleiben Kinder ohne Empathie und ohne Gefühl für die Würde des anderen. Seelisch hält dieser Film manche Zumutung bereit. Dennoch ist der Schluss mild. Zaghaft deutet er an, dass Menschenfreundlichkeit möglich sein könnte.
Die Besucher Dtl. 2012. Regie: Constanze Knoche, Drehbuch: Leis Bagdach, Constanze Knoche, Kamera: Kirsten Weingarten, Darsteller: Uwe Kokisch, Corinna Kirchhoff, Anjorka Strechel, Anne Müller, Jakob Diehl, Irina Potapenko u. a.; 92 Minuten, Farbe.