Flüchtlingskrise: "Wir sind auf diese Veränderungen nicht vorbereitet"

Berlin - Saskia Sassens Thema ist die Migration. Für ihre Forschung reist die Soziologin selbst unablässig um den Globus. Gerade kommt sie aus Mexiko, von wo aus sie – mit einem Zwischenstopp in ihrem Heimatort New York – nach Berlin aufgebrochen ist. Für ein Gespräch am Telefon noch vor einem Vortrag in der Hauptstadt blieb daher nicht genügend Zeit, so dass die Wissenschaftlerin darum bat, die Fragen diesmal per E-Mail und auf Englisch zu beantworten.

Frau Sassen, was denken Sie, wenn Sie die Bilder von den Flüchtlingen an der griechisch-mazedonischen Grenze sehen?

Ich sehe Menschen, die alles zurückgelassen haben, aber Europa schließt seine Grenzen. Diese Flüchtlinge sind Teil einer sehr viel größeren globalen Veränderung, eines neuen Typs von Migration.

Was macht diese neue Form der Migration aus?

Bisher sind wir meist davon ausgegangen, dass Migranten auf der Suche nach einem besseren Leben sind. Sie haben ihre Heimat und ihre Familie verlassen, in der Hoffnung, sie aus der Ferne unterstützen zu können und eines Tages möglicherweise zurückzukehren. Nun beobachten wir immer häufiger das, was ich als einen massiven Verlust der Lebensgrundlagen bezeichne. Aus unterschiedlichen Gründen können Migranten nicht mehr dahin zurück, wo sie hergekommen sind. Sie wandern aus um zu überleben.

Wo beobachten Sie das noch?

Etwa in Zentralamerika. Dort gibt es einen starken Anstieg von unbegleiteten Minderjährigen, die versuchen, in die USA zu gelangen. Ein anderes Beispiel ist die Vertreibung der Rohingyas, einer muslimischen Minderheit, aus Myanmar. Auch den Flüchtlingen aus Syrien, Irak, Afghanistan, die nach Europa wollen, geht es um Überleben.

Das sind sehr verschiedene Gruppen.

Natürlich hat jeder dieser Migrationsströme einen eigenen Kontext. Doch was ihre Ursachen angeht, verweisen sie alle auf einen größeren Zusammenhang: Sie sind entstanden aufgrund von extremen Bedingungen im Herkunftsland.

Zum Beispiel?

Eine wichtige Erklärung für diese Wanderungsbewegungen ist extreme Gewalt. Jugendliche aus Zentralamerika erzählen, dass sie vor allem vor der Gewalt in den Städten, vor Gangs, aber auch vor der Polizei geflohen seien. Eine andere Ursache sind 30 Jahre internationale Entwicklungspolitik, die viel totes Land hinterlassen haben. Die Plantagenwirtschaft, der Landraub, die Minen – all das hat Millionen Menschen aus ihrem Lebensumfeld vertrieben. Sie werden aber kaum wahrgenommen, weil sie als Flüchtlinge nicht offiziell anerkannt sind. Ganze Landstriche sind inzwischen unbewohnbar. Der Klimawandel hat einen steigenden Meeresspiegel und Versteppung zur Folge und reduziert die Flächen weiter. In die großen Slums der Städte zu ziehen, ist für die Betroffenen die einzige Option. Oder, wenn sie es sich leisten können, die Migration.