„Flying Pictures“ im Hamburger Bahnhof: Flying Steps vertanzen Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“

Der Gnom ist ein wild zappelnder und herumspringender Zwerg, den drei Meter hohe Riesengestalten mit erhabenem Interesse beäugen. Aus dem Ballett der Küken mausert sich eine auf Spitze tanzende Ballerina.

Der Marktplatz wird zu einer schrillen Umkleide- und Flanierschlacht, in der ein Tänzer als zugeschnürter Lumpensack durch die Gegend fliegt. Und Babajaga ist eine gefährlich schöne Hexe in knallrot. So sieht es aus, wenn Breakdancer und Street-Art-Künstler den alten Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ von Modest Mussorgsky zum Tanzen bringen: Sie erzählen knappe Theaterepisoden.

Der Choreograf Vartan Bassil und seine Flying Steps halten sich in ihrer Inszenierung durchaus an die Reihenfolge der zehn Gemälde, die die Musik beschreibt. Trotzdem stellen sie alles auf den Kopf und setzen ihre eigenen Bilder mit einer Energie dagegen, dass die Bühne des Hamburger Bahnhofs am Ende im johlenden Zuschauerjubel versinkt. Dabei war das Publikum bei der Premiere gut durchmischt mit Staatssekretären, Managern und Kunstsachverständigen.

Tanz-Akrobaten überlisten die Gesetze von Kraft und Gravitation

Vartan Bassil, Sohn libanesischer Flüchtlinge in Berlin, war 15, als er zum ersten Mal Breakdancer in Aktion sah. Er bezweifelte, dass die Bewegungen echt waren. Spulte seine Kassette immer wieder zurück, langsam, um die Kameratricks zu entdecken. Stattdessen verfiel er dem Breakdance, gründete die Flying Steps und sie wurden die Besten – vier Mal Weltmeister.

Der Zuschauer aber sitzt noch heute vor der Bühne, beobachtet die Tänzer und fragt sich: Wo ist der Punkt? In welchem Moment überlisten diese Tanz-Akrobaten die Gesetze von Kraft und Gravitation, um ihre Körper waagerecht durch die Luft zu kreiseln, gestützt nur auf eine Hand? Oder um aus dem Stand durch die Luft zu fliegen und zu neunt gefahrlos über die kleine Bühne in Boxringgröße zu springen? Manchmal sogar synchron. Bevor nun diese neue Inszenierung gewürdigt und die Künste zueinander in Beziehung gesetzt werden, sei  nochmal klargestellt, dass hier nur absolute Ausnahmetänzer am Start sind.

Flying Steps sind nicht zum ersten Mal Gast im Hamburger Bahnhof

Am Mittwoch öffnete Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie mit sechs Standorten in Berlin, den Hamburger Bahnhof für die Flying Steps. Kittelmann, eine mächtige Figur in der deutschen Kunstszene, geht damit kein Wagnis ein. Er lud schon vor neun Jahren die Flying Steps in einen seiner heiligen Hochkultur-Tempel ein, in die Neue Nationalgalerie. Dort entstand mit dem Opernregisseur Christoph Hagel, einem Klavier und einem Cello ihre erste abendfüllende Inszenierung „Flying Bach“. Der Erfolg ging sofort durch die Decke. Der Museumsmann staunte.

Er hatte an seinen Häusern bisher für hoch etablierte Kunst an den Start gebracht, aber nie erlebt, dass die am nächsten Tag in den China News auftauchten. „Flying Bach“ machte sich dann auf den Weg durch die großen Theater und Hallen in Wien, Sydney, Tokio, läuft noch heute. Und brauchte nicht mal Werbung – es verbreitete sich weltweit über Youtube-Kanäle. Der Echo-Klassik erfand dafür einen Sonderpreis.

Flying Steps verbünden sich für „Flying Pictures“ mit brasilianischem Künstlerduo Osgemeos

Der Nachfolger „Flying Illusion“ von 2014, aufgeführt mit einem technischen Mega-Aufwand, erreichte nicht ansatzweise die Magie des Auftakts – zu überladen die Vorstellung, zu austauschbar die Musik, zu schlicht die Handlung.

Gespannt sein durfte man also auf die Nummer drei „Flying Pictures“. Dazu verbündeten sich die Tänzer mit dem brasilianischen Künstlerduo Osgemeos, die als Straßenmaler in Brasilien anfingen, ihre sympathischen schmallippigen Riesenfiguren auf Güterwagen und Hauswände malten – mit Farbe und Pinsel, weil sie sich keine Spraydosen leisten konnten.

Heute wird das Duo von den etablierten Galerien der Welt vertreten, in einer Reihe mit Banksy genannt. Es stellt sicher, dass die Musik nicht nur eine tänzerische, sondern mit ihren Figuren auch eine bildhafte Entsprechung bekommt. Ein weiteres Bruderpaar, die deutsch-indischen Komponisten Vivian und Ketan Bhati, sorgte dafür, dass berühmte Musik erkennbar Mussorgski bleibt und trotzdem groovt.

Flying Steps: „Was wir machen ist Kunst! Nicht einfach Breakdance!"

Sie wurde nicht einfach gesampelt, sondern „überschrieben“, strenger rhythmisiert, von einer Beatbox verfremdet und dem streicher-dominierten Berlin Music Ensemble live gespielt. Bis Juni laufen die Vorstellungen und wenn jeder Platz verkauft wird, hört man, macht niemand Verluste. So läuft es bei nicht subventionierten Künstlern. Ihren langjährigen Sponsor Red Bull haben die Flying Steps nun nicht mehr an Bord – die Kulturwelt reagiert empfindlich auf einen so dominanten Geldgeber, der seinen Namen noch vor den von Bach setzen lässt.

„Was wir machen ist Kunst!“, sagt ein Tänzer. „Kunst! Nicht einfach Breakdance.“ Als sei daran irgendetwas einfach. Aber auf diese Anerkennung legen sie Wert, jetzt, wo sie wissen, was sie alles erreichen können. Wenn der Kurator und Museumsmann Kittelmann attestiert: „Das ist ein Gesamtkunstwerk“, dann klingt das wie ein Ritterschlag. 

„Flying Pictures“: Hamburger Bahnhof: bis 2. Juni Fr, Sa, So und Mi. Karten: eventim.de