Unerforschte Gefilde: Wie Research-Vibes die Kunstwelt fluten
Forschungsbasierte Kunst hat Potenzial und wirkt teils überfordernd. Der Trend spiegelte sich auf dem Gallery Weekend – und in einer Ausstellung von Itamar Gov.

„Was ist künstlerische Forschung“, fragte Hito Steyerl 2010 in ihrem Essay „Aesthetics of Resistance?“. Die Antwort ist gar nicht so eindeutig. Künstlerische Forschung sei eine Praxis, die sich durch Unbestimmtheit auszeichne, die ständig im Fluss sei. Was Steyerl dagegen eindeutig feststellt, ist die Überführung künstlerischer Forschung in akademische Lehrpläne – als Disziplin. Eine Entwicklung, die globale Perspektiven und nicht normativ konditionierte Ansätze wohl mindestens erschwert. Droht künstlerische Forschung somit zur zahmen Komplizin ästhetisierter, kapitalistischer Produktionsweisen zu verkommen? Mit Blick auf die KI-Revolution der letzten Monate und ihre Effekte auf Kultur scheint die Antwort klar: Ja!
Ein Kunsttrend, der sich parallel dazu in letzter Zeit größerer Beliebtheit erfreut, scheint diese Sorge gewissermaßen vom Kopf auf die Füße zu stellen: forschungsbasierte Kunst. Sie ist gerade gefühlt überall. Oft tritt sie mit kritischen Absichten auf und sträubt sich, mal mehr, mal weniger fordernd, gegen ihre Vereinnahmung durch den Markt. Ihr Markenzeichen ist die kompromisslose Überbetonung von Konzept und Diskurs. Und: der Versuch einer Übertragung ästhetischer Erfahrung in Bildung. Anders als Kunst der Moderne, der es so oft darum ging, das Innere des Künstlers in die Welt zu tragen und interpretierbar zu machen, will forschungsbasierte Kunst die Aufmerksamkeit der Betrachterin auf ihr Außen ablenken – und dabei teils auch als Korrektiv fungieren.

Ihre Ursprünge hat die forschungsbasierte Kunst in Arbeiten von Konzeptkunst-Schaffenden wie Sol LeWitt, Hans Haacke oder Adrian Piper. Sie alle versuchten, auf verschiedene Weisen, Systemisches erfahrbar zu machen. Ein anderes Beispiel: die feingliedrigen Kreide- und Bleistiftzeichnungen des rumänischen Avantgardisten Stefan Bertalan, die bis vor kurzem bei Esther Schipper zu sehen waren. Die Überlegungen des Künstlers zu Kybernetik und Systemtheorie beeinflussten seine lebenslange Suche nach organisierenden Prinzipien in der Welt. In seiner Kunst spiegeln diese sich in organischen, teils ungeheuerlich wirkenden Mustern.
Jüngere Beispiele forschungsbasierter Kunst
Ein populäres Beispiel forschungsbasierter Kunst sind natürlich die Arbeiten des Research-Kollektivs Forensic Architecture, deren Werke sich selten auf Galerieräume beschränken. Durch analytische Spitzfindigkeit, detektivische Hightech-Ästhetik und inhaltliche Spezialisierung auf Menschenrechtsverletzungen oder Verbrechen finden die antihegemonialen Werke von Forensic Architecture ihre Wege in Gerichte, Zeitungen oder Seminarräume – und verwischen somit geschickt künstliche Grenzziehungen zwischen Kunst, Wissenschaft, Journalismus und Justiz. Oft wirken sie wie Krimis: Etwa der Bericht zur Nachlässigkeit der Polizei im Kontext des rassistischen Attentats in Hanau 2020, die Analyse zur Verwicklung des Verfassungsschützers Andreas Temme in den NSU-Mord an Halit Yozgat 2006 oder der Bericht zum Mord an der palästinensischen Journalistin Shireen Abou Akleh durch Israels Armee 2022.
Der Reflex, der sich in der Betrachtung solcher Kunst einstellt, ist gewöhnungsbedürftig. Anders als Kunst, für die ästhetische Harmonie, handwerkliche Raffinesse oder kognitive Provokation im Vordergrund stehen, beschleicht einen bei der forschungsbasierten Kunst hin und wieder ein Gefühl inhaltlicher Überflutung, teils auch Überforderung. Diese Kunst ist Arbeit, nicht passives Sich-berieseln-lassen. Das muss man wollen.

Forschungsbasierte Kunst auf dem Gallery Weekend
Anlässlich des Gallery Weekends eröffneten vergangene Woche gleich mehrere Ausstellungen, die – im Spannungsfeld zwischen schönem Schein und didaktischem overkill – versuchten, den sweet spot zu treffen. Ein sensationelles Beispiel ist etwa die Ausstellung „Chemistry and Physics in the Household“ von Itamar Gov.
Der Titel bezieht sich auf eine gleichnamige Vortragsreihe von 1901, die von der ersten deutschen Chemie-Promovendin Clara Immerwahr stammt. Wenig später, im Jahr 1915, beging Immerwahr Selbstmord, aus Protest gegen die nobelpreisgekrönten Forschungen ihres Ehemanns Fritz Haber, die der Giftgas-Produktion dienten. Im Zentrum von Govs Auseinandersetzung mit Immerwahrs Biografie steht eine mind map, die ihre Vorträge mit historisch-politischen Momenten verflicht, die vom 18. Jahrhundert in die Jetztzeit reichen. Als landkartenhafte Spur visualisiert, wird hier eine Assoziationskette von wechselseitiger Beeinflussung gezeichnet. Sie ist Ergebnis einer eklektischen Recherche zwischen dystopischer Literatur, faschistischer Erneuerungsideologie, NS-Kontinuitäten, Transhumanismus und cyborghaften Klon-Fantasien.
Da ist etwa Mary Shelleys Buch „Frankenstein“, das auf das 1996 geklonte Schaf Dolly zurückbezogen wird. Oder die Zufallserfindung des tiefblauen „Berliner Blau“ Anfang des 18. Jahrhunderts, welches von europäischen Aristokraten später zur Akzentuierung blauer Adern genutzt wurde, um weiße Haut noch weißer erscheinen zu lassen. Überreste jener Farbe fanden sich nach 1945 an den Wänden von Gaskammern in Auschwitz und Majdanek. 2016 wurde das historisch belastete „Berliner Blau“ als Mittel zur Behandlung radioaktiver Vergiftungen aufgewertet.

„Recherche oder eine Art fragende Beobachtung und Lektüre ist der Ausgangspunkt für all meine Arbeiten“, erklärt Gov. Er genieße es, versteckte Mikrogeschichten aufzuspüren oder vergessene Menschen, Ereignisse und Objekte. Gerade solche, die nicht auf den ersten Blick verbunden scheinen, in „Konstellation“ jedoch Sinn ergäben. Die Recherche sei wichtiger Teil seiner künstlerischen Praxis, nicht aber als Ergebnis des Prozesses zu verstehen. Es gebe immer auch einen Punkt, wo Forschung zurückgestellt und Intuition, Vorstellung und Gefühlen Raum zugestanden werden müsse. Kunstwerke, die ihn selbst am meisten begeistern, kommunizierten vor allem auf emotionaler und ästhetischer Ebene. „Letztlich wird jedes Werk immer im Kopf der Betrachterin vollendet“, so Gov, „unabhängig von den Absichten oder Recherchen, die zu seiner Entstehung geführt haben.“
Der assoziative Gedankenraum, der sich in Govs Ausstellung auftut, ist letztlich auch Ausdruck einer abgründig-subtilen und messerscharfen Ironie, der sich der Künstler geschickt bedient, um oft isoliert vorgestellte Kapitel deutsch-europäischer Geschichte als vernetztes, bläuliches Ganzes zusammen zu denken.
Konkret wird das etwa in der Installation „The Nursery“ (Kinderstube) bestehend aus aufgereihten Stoffgebilden, die wie an Fleischerhaken in den lichthellen Raum ragen. Die im Titel der Arbeit angedeutete Erziehungssituation und die Anmutung jener Gebilde als überdimensionierte Kokons erinnert an den Einsatz von Seidenraupen zur Veranschaulichung der Eugenik in deutschen Klassenzimmern: auch das ist in der mind map verzeichnet. Zwischen den Stoffschichten jener Raupen schimmert das ominöse Blau, das im Nebenraum auch die Wandfarbe dominiert. Für „Olympia“ hat Gov hier Körperteile aus Gips gegossen, die wie zerlegte Einzelteile eines antiken Helden stilllebenhaft, fast klinisch auf einem metallisch glänzenden Operationstisch aufgereiht daliegen: Gehirne, Herzen, ein Torso. Die bizarre Sehnsucht der Nazis nach Verknappung des Menschlichen auf einen muskulös-perfekten, endlos reproduzierbaren, „arischen“ Körper wird hier auf unheimliche Weise gemimt – und verspottet.
Forschungsbasierte Kunst ist überall
Ein kleines Feuerwerk forschungsbasierter Kunst – wenngleich selten als solche rezipiert – war auch die Documenta 15. Verschiedenste Kollektive nutzten wissenschaftliche Methoden, um bis dato unbeachtete Perspektiven globaler Communitys ins Blickfeld des eurozentrischen Kunstkanons zu rücken. Etwa das kongolesische Kollektiv Centre d’art Waza, das Archivgemälde und -fotos zur Zeit der belgischen Kolonialherrschaft ausstellte. Oder La Intermundial Holobiente, ein Kollektiv, das in Form eines palimpsestartigen Buchprojekts im Staatspark Karlsaue versuchte herauszufinden, wie „die Dinge“ der Welt zusammenhängen.
Viele weitere Ausstellungen, die nun im Zuge des Gallery Weekends eröffneten, ließen sich unter dem Vorzeichen forschungsbasierter Kunst lesen: etwa Cao Feis vielbesprochene Ausstellung „Duotopia“, Ergebnis ihrer multimedialen Forschung zum Metaversum. Oder die Filmarbeiten des kurdischen Künstlers Hiwa K, der in seiner Videoinstallation „Good, Good, Good Boy“ seine Heimatstadt Sulaymaniyah porträtiert: das Haus der Familie, ein Foltergefängnis, Spuren staatlichen Terrors. Auch Hito Steyerls Videoinstallation „Animal Spirits“, in der sie Fragen prekärer Kulturproduktion und Krypto-Kunst nachgeht, ist auf ihre Weise forschungsbasierte Kunst. Was Steyerl selbst von dieser Beschreibung halten würde? Womöglich wenig. Immerhin impliziert schon das Label die Gefahr einer Verknappung.