Mythos Leistungsgesellschaft: „Ich bekomme wütende E-Mails von reichen Menschen“
Vom besseren Leben träumen viele. Doch der eigene Erfolg hängt maßgeblich von unserer Herkunft ab, sagt Francis Seeck. Ein Gespräch über Klassismus.

Berlin-Sozialer Aufstieg ist für Menschen in Deutschland kaum möglich, statistisch gesehen dauert es in Deutschland sechs Generationen, um sich „hochzuarbeiten“. Klassismus wird als Diskriminierungsform dennoch unterschätzt. Auch, weil die Mittelklasse künstlich aufgebläht wird. Ein Gespräch mit Francis Seeck. An der Humboldt-Universität forscht Seeck zu den Auswirkungen der Klassengesellschaft.
„Jeder ist seines Glückes Schmied“ – warum stimmt das Sprichwort nicht?
Das ist ein Mythos, weil Menschen unterschiedliche Ressourcen mitbringen. Erbschaften bestimmen den Lebensweg immer noch sehr. Im Bildungswesen kommt es sehr auf die soziale Herkunft an. Es wäre schön, wenn alle ihres Glückes Schmied wären. Aber leider sind die Möglichkeiten durch die Klasse, in die wir hineingeboren werden, beschränkt.
Mit dem Begriff Klasse verbindet man gerade in Deutschland vor allem marxistische Kritik an Produktionsverhältnissen. Marx unterschied zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Welche Klassen gibt es in einer neoliberalen Welt 2022?
Es geht auch heute noch um Vermögensklassen: Es gibt die, die Vermögen haben, und die, die kein Vermögen haben und an der Armutsgrenze ohne Sicherheitsnetz leben. Aber bei Klassen geht es auch um kulturelles und soziales Kapital. Also das klassische „Vitamin B“, Netzwerke.
Gibt es denn überhaupt noch eine Arbeiterklasse?
Es gibt immer noch ganz viele Menschen in Arbeiter:innenberufen: Pflegekräfte, Lastwagenfahrer:innen, Lieferant:innen. Darunter die Armutsklasse, also Langzeiterwerbslose, die unter der Armutsgrenze leben. Dann gibt es die Mittelklasse, die hinsichtlich des Einkommensvermögens die Mitte der Gesellschaft abdeckt, und Menschen, die vermögend sind und der Oberklasse angehören. Die haben auch Macht und Ressourcen.

Heute forscht und lehrt Seeck zu Klassismus und sozialer Gerechtigkeit, nach einer Vertretungsprofessur für Soziologie und Sozialarbeitswissenschaft an der Hochschule Neubrandenburg nun als Postdoc an der HU Berlin. 2020 erschien gemeinsam mit Brigitte Theißl der Sammelband „Solidarisch gegen Klassismus“.
Sie sagen, dass Klassismus neben Rassismus und Sexismus eine unterschätzte Diskriminierungsform ist. Welche Beispiele gibt es dafür?
Im Bildungssystem spielt die Klassenherkunft eine extrem große Rolle. Es gibt Studien, die zeigen, dass Kinder von Arbeiter:innen und aus materiell armen Familien bei gleicher Leistung diskriminiert werden. Klassismus beeinflusst also ganz konkret die Möglichkeit, Bildungsabschlüsse zu erlangen.
79 Prozent von Akademiker:innenkindern studieren, nur 27 Prozent ohne akademischen Hintergrund. Woran liegt das?
Da gibt es ganz unterschiedliche Gründe. Der Bildungstrichter siebt ja schon im Grundschulalter sehr viele Menschen aus, vielen Kindern von Arbeiter:innen wird der Zugang zum Gymnasium verwehrt. Einerseits liegt das an der klassistischen Einstellung der Lehrkräfte, die denken, dass diese Kinder nicht aufs Gymnasium passen, weil die Eltern keine Akademiker:innen sind. Dann liegt es auch an den Eltern. Akademiker:innen wollen oft mit allen Mitteln durchsetzen, dass ihre Kinder auch eine akademische Laufbahn einschlagen. Dazu kommt verinnerlichter Klassismus. Manche Arbeiter:innen denken, dass die akademische Laufbahn zu schwer für die eigenen Kinder sei, entscheiden sich gegen das Gymnasium.
Klassenmobilität ist in Deutschland eine Seltenheit. Laut OECD-Studie braucht man in Deutschland sechs Generationen, bis Nachkommen einer einkommensschwachen Familie das Durchschnittseinkommen erreicht haben. Warum glauben wir dennoch an die Leistungsgesellschaft?
Das ist eine wichtige Frage. Die soziale Ungleichheit ist groß, Eigentum ist sehr ungleich verteilt und dennoch führt die Idee der Leistungsgesellschaft dazu, dass wir dieses System aufrechterhalten und glauben, dass man es ja vielleicht doch auch noch irgendwie schaffen könnte. Aktuell bekomme ich viele E-Mails reicher Menschen, die mir als Reaktion auf das Buch wütend sagen, dass sie durch ihre Einstellung reich geworden seien und dass Armut einfach ein Mangel an Mut oder Risikobereitschaft sei. Und so funktioniert Klassismus ja ganz klassisch: Einkommensarmen Menschen wird die Schuld an ihrer Situation gegeben. Die Leistungsgesellschaft ist ein Mythos, der diese extreme soziale Ungleichheit aufrechterhält.
Die Mittelklasse wird künstlich aufgebläht, und uns wird suggeriert, dass wir doch alle gleich sind. Ungleichheit wird so unsichtbar gemacht.
Sie haben selbst die Klassen gewechselt. Als Kind einer langzeitarbeitslosen Mutter wurden Sie später an der Humboldt-Universität promoviert. Zeigt Ihr Lebensweg nicht, dass der Aufstieg doch funktionieren kann?
Ich bin auf jeden Fall die Ausnahme von der Regel. Wenn ich sehe, mit wem ich zur Schule gegangen bin und neben wem ich heute in der Universität sitze, dann sind das Menschen mit komplett konträren Klassenhintergründen. Trotz aller Barrieren hat es bei mir geklappt, ich bin da aber eher ein Einzelfall.
Welche Barrieren meinen Sie?
Trotz Abiturwunsch musste ich beispielsweise in der 10. Klasse im Jobcenter vorsprechen, man wollte mir dort direkt zeigen, wie ich später Vermittlungsbögen ausfüllen kann. Als ich studieren wollte, wurde das eher abfällig kommentiert.
Sie arbeiten heute an der HU. Zu welcher Klasse zählen Sie sich?
Ich sehe mich zwischen den Klassen. Ich bin geprägt von der Klasse, in der ich aufgewachsen bin, muss mich aber heute zur Mittelklasse zählen. Gleichzeitig fehlt mir das typische Sicherheitsnetz, ich habe weder Vermögen noch eine Erbschaft im Hintergrund.
Der Glaube an die Möglichkeit des Klassenaufstiegs spornt auch zu immensen Arbeitsleistungen an. Reden wir deshalb so selten über Klasse, weil damit Kapitalismuskritik verbunden ist?
Auf jeden Fall müssen wir auch kapitalistische Grundlogiken infrage stellen. Sogenannte Asoziale wurden schon im Nationalsozialismus verfolgt und ermordet, etwa Sexarbeiter:innen, Bettler:innen. Die Einteilung der Menschen in „leistungsfähig“ und „nicht leistungsfähig“ ist im kapitalistischen System verankert. Umgangssprachliche Begrifflichkeiten wie „asozial“ zeigen heute noch, wer als leistungsfähig gilt und wer nicht.
Müssten wir also, wenn wir über Klassismus reden, auch über Umverteilung reden?
Ja. Aktuell werden 30 bis 40 Prozent des Gesamtvermögens jährlich vererbt, fast die Hälfte wird also nicht durch Lohnarbeit erarbeitet. Insofern leben wir eigentlich in einer Erb:innengesellschaft. Lohnarbeit wird hoch versteuert, Vermögen und Erbschaften dagegen kaum. Da braucht es Veränderungen, indem wir zum Beispiel Vermögen und Erbschaften höher besteuern.
Der Traum vom besseren Leben bleibt also oft unerfüllt.
Die meisten Menschen rechnen sich aktuell der Mittelklasse zu, obwohl sie hinsichtlich ihres Einkommens ganz klar unter der Armutsgrenze leben oder zu den vermögenden Menschen zählen. Die Mittelklasse wird so künstlich aufgebläht und uns wird suggeriert, dass wir doch irgendwie alle gleich sind. Ungleichheit wird so unsichtbar gemacht.
Laut Paritätischem Armutsbericht 2021 sind über 13 Millionen Menschen in Deutschland arm. Das reichste Zehntel verfügt über knapp zwei Drittel des Gesamtvermögens. Warum haben wir Klassismus als Thema und Diskriminierungsform trotzdem kaum im Blick?
Einerseits gibt es kaum eine Lobby für diese Gruppe. Es gab zwar zu Beginn der Hartz-Reformen eine Erwerbslosen-Bewegung, die wurde aber oft nicht gehört oder wahrgenommen. Anderseits verorten sich wie gesagt die meisten Menschen ja selbst in der Mittelklasse, auch wenn sie eigentlich von Armut betroffen sind. Das hängt auch mit Scham zusammen. Dadurch fehlt der gesellschaftliche Druck, wirklich etwas zu verändern. Dies ändert sich im Moment. Viele merken durch die gestiegenen Preise, dass sie finanziell am Limit sind und die Politik da kaum etwas verbessert.
Sie haben es gerade angesprochen, auch die Politik fördere Klassismus. Prominentestes Beispiel sind die Hartz-Reformen. Ist es also politischer Wille, dass die Klassen am Ende doch unter sich bleiben?
Auch der Politikbereich ist von Klassismus durchzogen, man muss sich nur mal angucken, wer im Bundestag sitzt, welche Klassenhintergründe es dort gibt. Es gibt kaum Leute, die nicht studiert haben, wenige aus einkommensarmen Hintergründen. Natürlich prägt das auch die eigenen Themen. Das muss viel durchlässiger werden. Dazu kommen die Verstrickungen aus Partei- und Wahlkampfförderungen durch Unternehmen. Reiche Menschen nehmen so politischen Einfluss über Lobbyarbeit und Verbände und können eben ihre Themen stärker durchsetzen als arme Menschen.
Wie beurteilen Sie das aktuelle Entlastungspaket?
Ich halte grundsätzlich nichts vom Gießkannenprinzip, dass also alle den gleichen Betrag bekommen. Ich finde, Leute, die gut verdienen, die Vermögen haben, die brauchen keine zusätzliche Hilfe. Die Hilfen für einkommensarme Menschen, die Sozialleistungen beziehen, halte ich dagegen klar für zu niedrig.
Auch in der vermeintlich proletarischen DDR gab es Klassismus, „arbeitsscheue“ Menschen konnten zu Gefängnisstrafen verurteilt werden.
Mit dem „Asozialen-Paragrafen“ gab es auch in der DDR eine Kontinuität nationalsozialistischer Ideen, vermeintlich Asoziale, die sich nicht in die DDR-Arbeitskultur eingefügt haben, wurden verfolgt. Deswegen reicht es nicht, nur gegen den Kapitalismus zu kämpfen, denn auch im anderen System kann Klassismus wirken. Ähnlich übrigens wie Sexismus und Rassismus.
Sträuben wir uns in Deutschland letztlich aber vorm Klassenkampf?
Ich halte den Begriff Klassismus aktuell für anschlussfähig. Beim Begriff Klassenkampf muss man sich ja erst mal fragen, welche Klasse und welcher Kampf eigentlich? Letztendlich geht es aber um eine gerechtere Verteilung von Ressourcen.
Das Gespräch führte Maxi Beigang.
Francis Seeck: Keine Chance in der Klassengesellschaft: Wie Klassismus soziale Ungleichheit fördert. Sachbuch. Atrium Verlag, Hamburg 2022. 126 Seiten, 9 Euro
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