Frankfurter Buchmesse: Ein Jugendbuch über Rassismus in den USA von Angie Thomas
Angie Thomas ist eine Erscheinung, wie sie an diesem Morgen im Frühstücksraum des feinen Hotels in einer Seitenstraße des Kurfürstendamm sitzt. Ihr Lächeln ist riesengroß, und wenn sie spricht, scheint es ein paar Grad wärmer zu werden in diesem Raum.
Die Melodie ihres Südstaaten-Amerikanisch macht, dass man sich wünscht, sie hätte einem ihr Buch selbst vorgelesen. Man wäre noch tiefer in ihre Welt eingedrungen, hätte es noch lieber gemocht, sofern das überhaupt möglich ist.
Erschossen von der Polizei
Angie Thomas aus Jackson, Mississippi, ist 29 Jahre alt, und sie hat dieses Jahr ihren ersten Roman veröffentlicht. Es ist ein Jugendbuch. Dessen 16-jährige Heldin Starr muss mit ansehen, wie ihr bester Freund Khalil eines Nachts bei einer Routinekontrolle von einem Polizisten erschossen wird, obwohl er nicht bewaffnet ist. Es ist eine Geschichte, wie man sie aus den Nachrichten kennt, es ist die literarische Antwort auf rassistisch motivierte Polizeigewalt in den USA, die oft mit Straflosigkeit einhergeht sowie mit wütenden Protesten und Ausschreitungen.
Zum Sterben nicht zu jung
In einer der berührendsten Stellen im Buch erzählt Starr von den zwei Gesprächen, die die Eltern mit ihr führten, als sie zwölf war. Das eine war das übliche, über Blumen und Bienen. „Das zweite Gespräch handelte davon, was zu tun ist, wenn man von einem Cop angehalten wird. Momma regte sich auf und meinte zu Daddy, ich sei noch zu jung dafür. Er konterte, dass ich auch nicht zu jung sei, um verhaftet oder erschossen zu werden.“
Das Buch stand 26 Wochen lang auf der Bestseller-Liste der New York Times, meistens auf dem ersten Platz, wie Angie Thomas stolz erwähnt, und machte sie zum Shooting Star in der Literaturszene ihres Landes. Gerade wird es verfilmt. Wir treffen sie im September, als sie als Gast des Internationalen Literaturfestivals in Berlin ist.
Eine Überlebenstechnik
Wenn sie erzählt, begreift man, wie viel Angie Thomas in Starr steckt. Wie ihre Protagonistin ist sie in einem armen, vor allem von Schwarzen bewohnten Viertel am Stadtrand aufgewachsen, ging sie auf eine Privatschule, die vor allem von weißen Kindern besucht wurde. Wie Starr ist sie vertraut mit dem Code-Switching, je nachdem in welcher Umgebung, welcher Welt sie sich befindet. „Die Williamson-Starr benutzt keinen Slang, denn bei ihr würde das nach mieser Hood klingen. Die Williamson-Starr hält den Mund, wenn ihr die Leute blöd kommen, damit keiner sie für ein ,Angry Black Girl’ hält.“
Williamson ist der Name der Schule, die Starr besucht. „Es ist eine Überlebenstechnik“, sagt Angie Thomas. „Ich muss zum Beispiel aufpassen, nicht zu aggressiv oder zu stark zu erscheinen.“ Und sie achtet sehr darauf, wie sie sich in einer weißen Umgebung ausdrückt. „Ich will nicht weniger intelligent erscheinen.“
Rassismus im Alltag
Angie Thomas’ Buch ist vielleicht auch deshalb so erfolgreich, weil sie nichts gegeneinander ausspielt. Sie sucht Zwischentöne, schreibt von Zwickmühlen, den Wahrheiten, die nicht einfach sind, aber viel näher an der Wirklichkeit. Starrs Onkel etwa ist Polizist. In der schwarzen Community gilt er als Verräter, trägt er keine Uniform, wird er von seinen Kollegen fast automatisch als Verdächtiger wahrgenommen.
Starrs Freund Chris ist ein weißer Teenager, und an der Reaktion ihres Vaters sieht man, dass es auch Rassismus von Schwarzen gegenüber Weißen gibt. Aber das ist ein Nebenthema. Im Mittelpunkt stehen die Schwarzen, Leute mit fehlenden Möglichkeiten.
Lieblingsbücher, Lieblingsrapper
Als sie am Nachmittag im Haus der Berliner Festspiele vor Schülern auf dem Podium sitzt, spürt man, wie Angie Thomas sich entspannt. Das ist ihr Publikum, und die Teenager haben so viele Fragen an sie, dass der Moderator nach einer Stunde abbrechen muss. Ihr Buch funktioniert offenbar auch bei deutschen Lesern. Sie wollen alles wissen, es geht jetzt auch um ihre Lieblingsbücher (Harry Potter), und sie wird gefragt, wer ihre Lieblingsrapper sind: Chance the Rapper, Kendrick Lamar, J Cole.
Und natürlich Tupac. Der Buchtitel „The Hate U Give“ geht auf ein Zitat von ihm zurück. Er bezieht sich auf den Hass, den das System liefert, das viele als gegen sie selbst gerichtet empfinden. Tupac ist Angie Thomas’ Idol, „Hiphop war mein Spiegel“, sagt sie. Das Rappen war eine Möglichkeit, sich auszudrücken, von der Angst, der Frustration und der Wut zu erzählen, die sie ihr Leben lang gehabt hat. Als Teenager, in der Zeit des Lebens also, in der man Selbstvergewisserung am nötigsten hat, hat Angie Thomas selbst gerappt. Jetzt hat sie die Literatur, um sich auszudrücken.
Suche nach der eigenen Stimme
Sie erzählt, dass sie an ihrem zweiten Buch schreibt. „Ich nenne es meine ,Ode an den Hiphop’“, sagt sie. Wieder ist die Protagonistin ein 16 Jahre altes Mädchen, die auf der Suche nach der eigenen Stimme ist.
Angie Thomas ist zu einer Stimme innerhalb der afroamerikanischen Gemeinschaft in den USA geworden, ein Vorbild. „Ich nehme diese Verantwortung sehr ernst“, hat sie am Morgen gesagt. Viele Kinder in Mississippi hätten etwa noch nie einen Flughafen betreten. „Und durch mich sehen sie, dass einfach alles möglich ist.“ Warum sie ausgerechnet dieses Beispiel wählt? Vielleicht, weil es ein Sinnbild dafür ist, dass man das Ghetto verlassen kann, dass es denkbar ist abzuheben. Jetzt kommen Angie Thomas die Tränen.
Angie Thomas: The Hate U Give. Aus dem Amerik. von Henriette Zeltner, cbt München 2017, 500 S., 17,99 Euro