"Frau Luna" im Tipi : Vom Glück der schrecklichen Operette

Berlin - Dass jetzt keine Missverständnisse entstehen, wenn die Betrachtung gleich dem „Frau Luna“-Premierenrausch im Tipi am Kanzleramt verfällt, sich vor Begeisterung nicht mehr einkriegen will und der Leser glaubt, gleich nach Karten losrennen zu müssen. Weil er das noch vom „Weißen Rössl“ in der Bar jeder Vernunft kennt, wo wegen ständiger Überfüllung kein Reinkommen war. 22 Jahre ist das her, aber von der Inszenierung wird bis heute ungeniert geschwärmt. Und es gibt ja auch Parallelen. Schon 1994 besetzten die Geschwister Pfister – blutjung! – einige Hauptrollen, vor allem aber handelt es sich beim „Weißen Rössl“ um eine genau so schreckliche Operette wie bei „Frau Luna“.

Das Libretto des aktuell gezeigten Singspiels ist unlogisch, sinnfrei und von ausgemachter Berliner Piefigkeit. Die Musik von Paul Lincke, nach dem die Stadt immerhin ein Ufer benannte, möchte man nicht für Geld und gute Worte mit nach Hause nehmen, am allerwenigsten einen so fiesen Marsch wie „Das macht die Berliner Luft“. Muss man aber, es bleibt gar keine Wahl, im Ohr donnert es einfach weiter: Luft, Luft, Luft! Zu Schlagern mutierte Titel wie dieser haben Generationen von Heranwachsenden im letzten Jahrhundert den Geschmack ruiniert. Jedes Hauptstadt-Programm endet selbstverständlich mit diesem Duft, Duft, Duft. Als angeblich „heimliche Hymne“ hat doch Berlin keinen garstigen Gassenhauer verdient.

Bloß nicht nachdenken

Nun zu der Frage, warum „Frau Luna“ im Tipi trotzdem glücklich macht. Auf keinen Fall, weil der provinziellen Operette eine ironische Ebene hinzugefügt wurde, wie es Herbert Fritsch jüngst an der Volksbühne versuchte. Er trieb dem Stück mit seinem aufdringlichen Brachialhumor und den Textverstümmelungen die Komik aus, so dass man sich nur müde abwenden konnte. Besucherorganisationen warnten ihre Mitglieder vor einem Besuch: Nix für euch!

Das passiert dem Tipi nicht, hier läuft es gerade anders herum. Nichts wird denunziert, alles bleibt, wie es 1899 aufgeschrieben und gemeint war, damals, als die deutsche Operette ihre Anfänge nahm. Folgender Plot ging als tragend durch: Vier Berliner, angeführt von dem jungen Ballonbauer Steppke, reisen zum Mond, treffen dort in einer Art Vergnügungsetablissement auf die herrschende Frau Luna mit Gefolge, darunter Mars, Venus, Stella und die Mondelfen. Die Erdenbewohner versuchen anzubändeln und ein bisschen fremdzugehen mit den schicken Himmelsgestalten, finden es aber letztlich zu Hause bei den Lieben doch am schönsten.

Über den Inhalt darf man keine Sekunde nachdenken, ist auch nicht nötig, wenn alles von der Form derart pompös überlagert wird und sich als burlesk-phantastische Ausstattungsoperette präsentiert, genau wie es die Gebrauchsanweisung vorsieht. Die beherzigt das Tipi und richtet in der Regie von Bernd Mottl mit den Königen der Kleinkunst der letzten Jahrzehnte alles als himmlisches Fest an – klamottig, kitschig, frivol und lustig, in zackigem Tempo und mit punktgenauen Pointen.

Das Stück beginnt wie ein Schwank im Ohnsorg-Theater auf Berlinisch in den grauen Pappkulissen einer Wohnung. Steppke versteckt sich und seine Mondreisepläne vor seiner Vermieterin Witwe Pusebach. Sie entdeckt ihn und meckert: „Ick habe Ihnen als Untermieta uffjenommen, nich als Fassadenkletterer“. Damit man mal einen Eindruck von Ton und Grammatik des Stücks bekommt, für das einige eigens berlinern lernten. Oder, zart selbstironisch: „Und ist der Vers auch noch so schlecht, es gültet das Urheberrecht“.

Alles stimmt

Aber noch bevor sich Steppke und seine Kumpels auf den Weg machen – ja, sie heben ab, die Witwe hängt beim Versuch, sie aufzuhalten, dann unten dran am Ballon, alles werkgetreu – öffnet sich der Himmel für die Operettenseligkeiten: „Schlösser, die im Monde liegen“, „Lass den Kopf nicht hängen“, „Oh Theophil“. Man macht sich ja keine Vorstellung, wie empfänglich wir Zuschauer sind für die alten Schmachtfetzen, wenn sie uns nur ehrlich verzaubert und inbrünstig-beseelt vorgetragen werden. Wie auf dieser zur großen Glitzerlandschaft mit Wolken- und Boudoir-Kulissen umgebauten Zeltbühne, so sieht sie aus und so klingt sie, die große Sehnsucht nach dem Kleinglück.

Alles stimmt an dieser sorgfältigen und detailbesessenen Inszenierung, bis hin zur letzten Naht der schicken Kostüme. Da gibt es kein Halten, auch nicht beim Mitklatschen, wenn das himmlische Gesinde in allerhöchster Spielfreude durch die engen Reihen im Zelt marschiert: Luft, Luft, Luft! Man vermisst keine Opernstimme, wenn man der singenden, tanzenden Tipi-Künstlerfamilie so nah kommen kann, flankiert von zauberhaften Mondelfen und einer spielwütigen Mondkapelle, jeder geübt im gegenseitigen Sich-Übertrumpfen. Bloß keine Rangordnung, nur Tobias Bonn als sprühender Theophil und Christoph Marti als herrische Pusebach – schon, wie sie beleidigt das Kinn hebt – brauchen vielleicht noch einen Extra-Applaus.

Für Abgebrühte gibt es zum Schluss kleine Drehorgeln als Andenken an der Garderobe. Sie leiern: Luft, Luft, Luft. Lassen Sie die liegen! Sie werden die nicht mehr los.