Für Buchpreis nominiert: Inger-Maria Mahlkes Teneriffa-Roman „Archipel“

Teneriffa gehört zu den liebsten Ferieninseln der Deutschen – sonnige Strände, unkomplizierter Pauschaltourismus. Nicht alle werden wissen, was Inger-Maria Mahlkes neuer Roman eher nebenbei beschreibt – dass Abwässer der Insel ungeklärt ins Meer fließen. „Seit Jahrzehnten, nein, seit fast einem Jahrhundert blockieren die Inhaber der Wasserrechte den Bau von Kläranlagen, die ihren Gewinn schmälern würden.“

Ana Bernadotte hat als Lokalpolitikerin mit solchen Dingen zu tun. Wir lernen sie kennen, kurz nachdem ihre eigenen korrupten Verstrickungen aufgeflogen sind. Zu Beginn des Romans verschanzt sie sich in ihrem schicken Haus mit hoher Mauer, während die Presse die Einfahrt belagert.

Detailfreude in Hochform

So weit, so spannend, könnte man meinen. Aber Inger-Maria Mahlke, seit ihrem Open-Mike-Erfolg im Jahr 2009 eine der interessanteren deutschsprachigen Autorinnen, serviert uns keine temporeiche Story über Tourismus, Umweltverschmutzung und Habgier, sondern etwas deutlich Langsameres. Sie erzählt nicht nur von Ana, sondern ebenso viel von ihrem Vater Julio, der in einem Altersheim lebt. Wir lesen Seite um Seite über Plastikgeschirr, Radsport im Fernsehen, freundliche Nonnen, demente Mitbewohner, es passiert fast nichts, Mahlkes vielgepriesene Detailfreude zeigt sich in Hochform.

Ein Glossar fürs Spanische

Weiterhin führt uns der Roman zu Anas Mann Felipe, der seine feudale Abstammung mit historischer Alltags- und Faschismusforschung zu kompensieren sucht, bevor er sich dem stilvollen Alkoholismus ergibt. Und dann wäre da noch Rosa, die Tochter der beiden. Sie sitzt meist vor Netflix und hadert damit, ihrem Leben und ihrem Kunststudium keinen Sinn abringen zu können.

Mahlke schildert jede dieser Figuren und ihre entnervend egozentrisch oder auch unverständlich wirkenden Handlungen ausführlich. Auch jeder Schauplatz wird ganz genau beschrieben, es ist nicht das Teneriffa der Touristen. Sie kennt sich auf der Insel bestens aus und streut großzügig spanische Begriffe in den Text. Leser, die nicht nach dem Glossar am Ende des Buches suchen, könnten den Roman frühzeitig in die Ecke werfen.

Sie sollten es nicht tun. Nach einem Drittel kommt Bewegung ins Buch. Es wandert in die Vergangenheit, wir treffen jüngere Versionen der Figuren und lernen neue, ältere kennen. Nach zwei Stopps in den 2000er-Jahren geht es ins Jahr 1993, in dem Rosa als Enkelin zweier sehr unterschiedlicher Großelternpaare geboren wird, dann weiter zurück in die Zeit des gescheiterten Militärputsches 1981, in Francos Todesjahr 1975, in den Spanischen Bürgerkrieg, ja bis ins Jahr 1919. Mahlke entfaltet, rückwärts erzählend, die Geschichten dreier Familien: Felipes (Großgrundbesitzer und frühe Faschisten), Anas (in den Widerstand verstrickte Mittelschicht) und die ihrer Haushälterin (deren Armut keine Kraft für Politik übrigließ).

Besser als ein Historiker

Je weiter in die Vergangenheit wir vordringen, desto klarer erschließt sich das Geschehen in den Kapiteln zuvor. Motive werden deutlich, Vorgeschichten sichtbar, Julios graues Leben im Altersheim zum Beispiel bekommt vor dem Hintergrund seiner Erlebnisse während des Bürgerkriegs Kontur und Tiefe. Allein dafür kann man dieses Buch lieben. Immer geht es um Geld, Macht, Politik, um Faschismus, der Spanien so lange beschäftigte, aber auch um die Effekte eines Katholizismus, der Menschen in unglückliche Ehen sperrte: bleierner Überdruss, besonders der Gattinnen der Mittel- und Oberschicht, die verzweifelte Resignation nicht verheirateter Mütter.  Mit den Mitteln einer Schriftstellerin gelingt Mahlke, woran der Historiker Felipe scheitert.

Sie rollt die Geschichte der Insel auf und zeigt, wie sehr der Alltag dort bis heute von ihr durchdrungen ist. Sie tut es in jeder einzelnen ihrer detailfreudigen Szenen, genau beobachtend, mit ausgeprägtem Gespür für psychische Regungen. Das gilt auch für den etwas zähen Beginn des Buches, nur bemerkt man es erst im Nachhinein, wenn mehr Informationen über die Vergangenheit zu Verfügung stehen.

Darüber lässt sich lange nachdenken

Ihr Rückwärtsgang ist sperrig, aber wirklichkeitsnah, denn wie oft stehen wir vor Orten oder Personen und wissen nichts über sie? Literatur hat viele Möglichkeiten, solche Leerstellen zu umgehen, elegant, ja unmerklich zu überspielen. „Archipel“ nutzt sie nicht, ja macht solche Lücken mit Nachdruck sichtbar. Darüber lässt sich länger nachdenken, vielleicht, während man den Roman – mit den bei der ersten Lektüre gewonnenen Einblicken in die Vergangenheit – ein zweites Mal liest. Vielleicht in den Herbstferien, auf einer sonnigen Insel, von der wir meist nur einen kleinen Ausschnitt der Gegenwart kennen.