„Fugitive Souls“ von Mitya Trotzky: Fotos als Panoptikum der Beziehungslosigkeit
Flucht aus dem Alltag. Und dies am liebsten auf einem Luxusdampfer über die Weltmeere. Muss man sich freilich erst mal leisten können. Davon träumen viele Menschen, wo auch immer, in der Stadt oder auf dem Land, in Berlin oder London, in New York. Oder Moskau, wo Menschen am Stadtrand es sich eben nicht leisten können, auch wenn die Oktoberrevolution vor 100 Jahren Wohlstand versprach.
Aus Moskau kommt der Fotograf Mitya Trotzky, er floh 2012 aus politischen Gründen nach Berlin, „in die Freiheit“, wie er es sagt. Der heute 41-Jährige hatte bis 1993 Visuelle Anthropologie an der Lomonossow-Universität studiert und arbeitete als Theater- und Filmregisseur.
Dann wurde er Produzent bei russischen TV-Sendern, erfolgreich zunächst, doch wegen seiner kritischen Haltung zur Putin-Regierung bekam er Schwierigkeiten. Mit Berlin fühlt er sich seit 2004 verbunden, da wurde seine erste und letzte romantische Filmkomödie „You I love“ in der Sektion Panorama bei der Berlinale gezeigt.
Die Winter verbringt der russische Wahlberliner seit einigen Jahren in Florida, wo er sich erstmals mit dem US-amerikanischen, milliardenschweren Geschäft der Kreuzfahrt-Industrie konfrontiert sieht. Täglich passieren bis zu acht Luxusdampfer mit mindestens 55.000 Urlaubern sein Domizil, das an dem Kanal liegt, der den Hafen Fort Lauderdale mit dem offenen Meer verbindet.
Das Foto-Projekt zeigt Trotzkys Faszination für Intimität, Exhibitionismus und Weltflucht
Jede Ausfahrt wird zum Fest, die Passagiere – aus aller Welt, garantiert auch „Neue Russen“ mit genügend Geld – winken den Zurückgebliebenen und Neugierigen zum Abschied zu, feiern den Beginn ihres Urlaubs, manche wirken noch gestresst, manche glücklich.
Das Foto-Projekt zeigt, wie sehr Trotzky die Kombination von Intimität, Exhibitionismus und Weltflucht fasziniert. Mit einem Teleobjektiv tastet er die Schiffswände, Decks und Balkone der langsam dahingleitenden Riesenschiffe ab, mit immer ähnlichen Ausschnitten dokumentiert er die physischen und psychischen Zustände einer künstlichen, hochkommerziellen Luxuswelt. Jeder Balkon ist eine komfortable Zelle, jede Zelle zeigt ein Stück Menschen-Theater, Komödie oder Drama.
Schon lange zuvor hatte Trotzky sich das deutsche Fotografenpaar Becher und den amerikanischen Fotografen Philip-Lorca diCorcia als Vorbilder erwählt. In knapp zwei Jahren entstanden über 7000 Bilder – eine Art Abbild der Gesellschaft aus Paaren, Singles, Jungen, Alten, Schönen, Aufgebretzelten, Lässigen – alles ohne deren Wissen.
Obwohl es oft so wirkt, als blickten die Fotografierten in die Kamera und hätten damit Blickkontakt mit ihrem Beobachter, handelt es sich um eine optische Täuschung. Die Traumschiff-Urlauber schauen immer ans Ufer. Trotzkys Kamera ist dort geschickt platziert, für die Blicke vom Schiff aus gesehen unentdeckbar. Was die Seereisenden verbindet, beschreibt Trotzky als „Ausdruck von Skepsis und Melancholie“.
Der Fotograf mit dem markanten Namen verwandelt den Kunstverein in ein Panoptikum der Beziehungslosigkeit. Den Raum lässt er hinter einer über 20 Meter langen, unmittelbar auf die Wand aufgebrachten Porträtreihe verschwinden, um ihn an anderer Stelle mit einer auf die Fenster projizierten Diaserie in den Außenraum zu erweitern. „Fugitive Souls“ strahlt im wörtlichen Sinne als Projektion bis in den Stadtraum am Rosa-Luxemburg-Platz.
Kunstverein Rosa-Luxemburg-Platz, Linienstr. 40, Eröffnung: 9.11. 2017 um 19 Uhr bis 6. Januar 2018, Mi–Fr 14–18 Uhr, Telefon: 308 759 88