Harry-Potter-Spiel „Hogwarts Legacy“: Ein Fall für die Cancel Culture?
Millionen Fans warten seit Jahren auf dieses Spiel – anderen ist es ein Dorn im Auge. Der Grund ist, mal wieder, die politische Haltung von J.K. Rowling.

Ein Controller ist ja immer eine Art von Zauberstab. Geht man richtig mit ihm um, öffnen sich Türen, lassen sich die größten Hindernisse überwinden, tun sich neue Welten auf. Darin gelten dann eigene Regeln, aufgestellt von ihren Göttern, den Spieleentwicklern. Oft wird es besonders reizvoll, wenn jene sich in ihrer Allmacht zurückhalten. Wenn sie ihren Spielern möglichst viele Rechte und Mächte zugestehen und das moralische Grundgerüst ambivalent halten – also nicht nur die Braven belohnen, sondern Freiheiten für eigene Entscheidungen zulassen. Wie kein anderes Medium bieten Games Räume, um sich auszuprobieren, auch emotional, ohne dabei Konsequenzen in der realen Welt fürchten zu müssen. Was aber, wenn die Götter selbst im Verdacht moralischer Verfehlungen stehen? Bei Videospielen stellt sich diese Frage noch intensiver als bei anderen Kulturprodukten.
J.K. Rowling war nicht an der Entwicklung des Spiels beteiligt
Nun steht im Fall von „Hogwarts Legacy“ nicht das Entwicklerteam der Firmen Avalanche Software und Portkey Games im Kreuzfeuer der Kritik, sondern die Erfinderin der Welt, in der sie ihr interaktives Abenteuer angesiedelt haben. Das Spiel lebt im Harry-Potter-Universum, mit dem die britische Autorin Joane K. Rowling 1997 einen beispiellosen Erfolgszug antrat.
Seit einigen Jahren tut sich die Schriftstellerin allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung weniger durch ihre kreativen als durch ihr politischen Aktivitäten hervor. Durch ihre kritische Haltung zu progressiver Transpolitik, die Transfrauen und Frauen rechtlich gleichstellen will, ist die rege Twitter-Userin zum Hassobjekt Nummer eins von Trans-Aktivist:innen geworden; zum Inbegriff einer TERF, kurz für Trans-Exclusionary Radical Feminist, also einer radikalen Feministin, die Transmenschen in ihrem Engagement ausgrenzt. Googelt man das Akronym, erscheint Rowlings Bild.
Zahlreiche Prominente haben sich längst von der Schriftstellerin distanziert, darunter Emma Watson und Daniel Radcliffe, die Hauptrollen in den Potter-Verfilmungen gespielt haben. Auch bei Portkey Games wusste man natürlich vorher um das Entrüstungspotenzial, das eine Zusammenarbeit mit der Autorin bedeuten könnte. „J.K. Rowling ist nicht an der Entwicklung des Spiels beteiligt, aber als Schöpferin der Welt der Zauberei und eine der größten Geschichtenerzählerinnen der Welt ist ihr außergewöhnliches schriftstellerisches Werk die Grundlage für alle Projekte in der Wizarding World. Dies ist keine neue Geschichte von J.K. Rowling, aber wir haben bei allen Aspekten des Spiels eng mit ihrem Team zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass es den magischen Erfahrungen entspricht, die Fans erwarten“, so das Statement des Studios.
Wann immer in den vergangenen Jahren ein neuer Titel des Potter-Franchises veröffentlicht wurde, etwa neue Filme der „Fantastische Tierwesen“-Reihe wurden Boykott-Aufrufe laut. Diesmal ist es besonders extrem, manche Fachjournalisten und -medien verweigern die Berichterstattung. Das ist freilich ihr gutes Recht – geht aber am Interesse der Zielgruppe vorbei. Und die ist riesig. Bei Amazon führte das Spiel schon vor seiner Veröffentlichung die PlayStation-Verkaufscharts an (für Microsoft XBox erscheint es erst im April, für die Nintendo Switch im Juli), im Netz gehört der Titel seit Wochen zu den am häufigsten gegoogelten Begriffen. Seit „Harry Potter und der Stein der Weisen“ 1997 veröffentlicht wurde, träumen sich schließlich Fans auf der ganzen Welt ins Reich der Zauberer, Kinder warten an ihrem elften Geburtstag sehnlichst auf Post aus dem Zauberinternat.
Wohlwissend, dass längst nicht nur Kinder von der Ausbildung zum Zauberer träumen, haben die Entwickler von „Hogwarts Legacy“ zu einem narrativen Kniff gegriffen: Zwar orientiert sich das Spiel an den zentralen Übergangsriten des ersten Romans, inklusive Einschulung, der Zuweisung zu einem der vier identitätsstiftenden Häuser und natürlich dem Erlernen von magischen Fertigkeiten wie Zaubern, Tränke brauen und einen Besen fliegen. Diese absolvieren die Spieler allerdings nicht in Gestalt eines elfjährigen Erstklässlers, sondern als älterer Nachzügler, der nun in der fünften Klasse fast bei null mit dem Unterricht beginnen muss. Der Grund dafür bleibt lange ein Geheimnis.

Die Frage nach der eigenen Rolle im Kampf um Gleichberechtigung
Das Abenteuer beginnt, wie die meisten Rollenspiele, mit der Gestaltung des Charakters, bei der das Geschlecht übrigens keine Rolle spielt. Frisuren, körperliche Merkmale und Stimmen unterschiedlicher Klangfarben können beliebig kombiniert werden. Dass diese Entscheidung eine direkte Reaktion auf Rowlings politisches Gebaren war, wurde in der Branche schon vor zwei Jahren gemunkelt – heute ist dieses Feature in neuen Spielen aber generell keine Seltenheit mehr.
In dem fertigen Wunschkörper machen sich Spieler dann auf in Richtung Hogwarts des 19. Jahrhunderts, wo sie erstmal die erwähnten Grundlagen erlernen müssen. Für Eilige bedeutet das Videosequenzen in hoher Dichte, doch man kann sich auch Zeit lassen. Zu erkunden gibt es genug. Die digitalen Schauplätze der Romane beeindrucken mit Detailreichtum, für Kenner halten sie diverse Romanreferenzen bereit, die sich oft erst auf den zweiten Blick oder durch den richtigen Schwung mit dem Zauberstab offenbaren. Das Schloss und die umliegenden Ortschaften allein böten genug Raum für eine großangelegte Heldenreise. Doch von hier aus geht es erst richtig los, wohlgemerkt nach einem Auftakt, der sich leicht über eine zweistellige Stundenzahl erstrecken kann. Zaubern lernt man nicht über Nacht.
Bald wird klar, dass die eigenen Zauberfähigkeiten die der Mitschüler trotz des späten Einstiges übersteigen. Die Spielfigur kann Spuren alter Magie wahrnehmen, was sie sowohl zu einer wichtigen Verbündeten für rechtschaffende Zauberer als auch zur Zielscheibe böser Mächte macht. Diese kommen zunächst in Form eines Kobolds daher, der eine von zahlreichen in den Potter-Romanen erwähnten Rebellionen seiner Spezies gegen die Zauberer anzetteln will. Über die politischen Zusammenhänge erfahren Spieler lange nichts. Warum die von den Kobolden geforderte Gleichbehandlung in einem derart negativen Kontext präsentiert wird, bleibt ein Rätsel, das durch das skrupellos aggressive Auftreten der Rebellierenden allerdings, zumindest in den ersten Stunden, nur sehr leise gestellt wird.
Schon in Rowlings Romanen wurden Klassenfragen behandelt, hier standen die deutlich demütigeren Hauselfen als kulturell akzeptierte Helfer – de facto Sklaven – der Zauberer im Fokus. Um auf diesen Missstand aufmerksam zu machen, zettelte die kluge Hermine schließlich eine Protestaktion an, die auch an so manchem alten weißen Zauberer nicht spurlos vorüberging.
Ob man Rowlings öffentliche Haltung von ihrer Kunst trennen sollte, will und kann, muss, wie immer, jeder selbst entscheiden. Eine interaktive Auseinandersetzung mit sozialen Fragen, ganz zu schweigen von einer immersiven Erfahrung, die dem Traum vom Leben als Zauberer bisher am nächsten kommt, würde man sich durch den Boykott dieses Spiels, an dessen Entwicklung die Autorin kaum beteiligt war, verwehren. Die potenziellen finanziellen Einbußen dürfte die Milliardärin übrigens kaum bemerken.