Gerhard Lamprecht: Von den Höhen und Tiefen des „Milljöhs“
Gerhard Lamprecht (1897-1974) war eine Schlüsselfigur der deutschen Filmgeschichte. Er wirkte zugleich als Akteur und Förderer, drehte zahlreiche Filme, sammelte Dokumente, Apparaturen und Kopien und gründete 1963 schließlich die Stiftung Deutsche Kinemathek, die bis heute wichtigste Institution zur Pflege des nationalen Filmerbes. Am populärsten dürfte der umtriebige Cineast als Schöpfer der Kästner-Adaption „Emil und die Detektive“ (1931) sein. Dass er darüber hinaus mehr als 50 weitere Spielfilme inszeniert hat, ist heute kaum bekannt. Lamprecht arbeitete als Filmschaffender zwischen 1917 und 1957 unter fünf politischen Systemen Deutschlands, vermochte dabei, stets Bemerkenswertes zu hinterlassen.
Er begann im Kaiserreich als Dramaturg und stieg in der Weimarer Republik zum viel beschäftigten Regisseur mit eigener Produktionsfirma auf. In Zusammenarbeit mit Heinrich Zille wurde er für „Milljöh“-Filme bekannt. Während der Nazi-Zeit realisierte er 16 Filme als „Spielleiter“ von Goebbels’ Gnaden, diskreditierte sich dabei aber politisch und moralisch nur wenig. Nach dem Krieg konnte er deshalb bei der DEFA seine Karriere fortsetzen; hier schuf er 1946 mit „Irgendwo in Berlin“ einen der wichtigsten „Trümmerfilme“. Angesichts ideologischer Eingriffe zog er es bald vor, im Westen weiterzuarbeiten. In der jungen Bundesrepublik verflachte indes sein inhaltliches Profil als Filmemacher: Er drehte eher belanglose Unterhaltungsfilme sowie Auftragsarbeiten für die Wirtschaft. Bald konzentrierte er sich auf seine filmhistorische Arbeit, die im Aufbau der Deutschen Kinemathek gipfelte.
Anlässlich ihres 50. Jubiläums würdigt diese ihren Gründungsvater nun mit einer Reihe von Publikationen und Veranstaltungen. Zwei in Vergessenheit geratene Spielfilme aus den 1920er-Jahren wurden sorgfältig restauriert und erleben jetzt ihre feierliche Wiederaufführung. Die beiden Werke erweisen sich als sehr unterschiedlich. „Menschen untereinander“ (1926) führt in ein Berliner Mietshaus, bietet einen kaleidoskopischen Einblick in verschiedene soziale Schichten, angefangen von einem Luftballonverkäufer über eine Ballettlehrerin, einen Regierungsbeamten und einen Juwelier bis hin zur Hausbesitzerin. Es gibt große Tragödien, kleine Intrigen und aufkeimendes Liebesglück – ganz so wie in der „Lindenstraße“. Zuletzt muss die skrupellose Vermieterin das Feld räumen, der neue Eigentümer verheißt Verständnis und Großzügigkeit. Der Film ist formal wie inhaltlich äußerst konservativ: In meist statischen Einstellungen und umständlich eingefädelten Interaktionen werden soziale Verwerfungen als Schicksalsschläge oder Folgen zwischenmenschlicher Missgunst beschrieben. Das Ende schwelgt dann in der glückseligen Auflösung aller Probleme; Konfliktbewältigung auf Gartenlauben-Niveau.
Ganz anders geht es zwei Jahre später im Prostituierten-Melodrama „Unter der Laterne“ zu. Erzählt wird der Aufstieg und Fall der Kleinbürger-Tochter Else von der Edel-Kokotte zur Straßendirne. Dabei wird nichts romantisiert, das Ende könnte kaum pessimistischer sein. Auch ästhetisch hat Lamprecht hier einen regelrechten Quantensprung vollzogen. Der Film ist wesentlich dynamischer geschnitten, arbeitet mit Fahrten, Schwenks, Doppelbelichtungen, Außenaufnahmen und Rückblenden. Die spätere Meisterschaft von „Emil und die Detektive“ zeichnet sich bereits ab. Beide Filme im Doppelpack zu sehen, erweist sich als überaus aufschlussreich, gewährt spannende Einblicke sowohl in die Sozialgeschichte Deutschlands als auch in die Metamorphosen eines seiner wichtigsten Filmkünstler. Die sensible technische Restauration und die musikalische Neuinterpretation durch den Komponisten Bernd Schultheis und das Ensemble Mosaik vollziehen einen anregenden, weil in keiner Weise historisierenden Brückenschlag von der Geschichte zur Gegenwart.
Lange Gerhard-Lamprecht-Nacht mit Live-Musik: am 30. Juni in der Volksbühne (Großer Saal). Um 18 Uhr: „Menschen untereinander“ (Dtl. 1926); um 21 Uhr: „Unter der Laterne“ (Dtl. 1928).