Geschichte am Straßenrand: Ein Elektrozwerg mit Ähnlichkeit zu Adolph Menzel

Am Rand von Weißensee gibt es Industriehallen, deren Produktionsanlagen nach dem Zweiten Weltkrieg demontiert, eingepackt und als Reparationsleistung in die Sowjetunion geschickt wurden. Kleingewerbetreibende nutzten die ausgehöhlten Räumlichkeiten, einige VEB-Betriebe wurden hier ansässig, bevor sie nach der Wende dichtmachten. Alles verfiel. Jetzt aber gibt es Vorboten der Gentrifizierung: Start-ups, Event-Locations, städtisch geförderte Ateliers, sogar Hühner und Schafe werden gehalten. Überall stehen auf dem Sperrmüll zusammengesammelte Sitzgruppen, herrliche Plätze für ein Feierabendbierchen. Das ist von berlintypischer provisorischer Nochschönheit.

Die Werke wurden Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut, als die Gegend durch den Bau der Industriebahn Tegel-Friedrichsfelde für den Güterverkehr erschlossen wurde. Die Architekten haben sich damals noch Mühe gegeben, Stolz, Potenz und Würde sollten ausgedrückt werden, Qualitätsklinker wurde verbaut, es gibt Türme und Fassadenschmuck.

So richtig stolz und potent sieht allerdings der kleinwüchsige Mann an der Fassade des ehemaligen Ziehl-Abegg-Maschinenwerks nicht aus. Sag, wer mag das Männlein sein? Über den direkt vor ihm stehenden, nur wenig kleineren Elektromotor scheint der Mann melancholisch hinwegzuschauen. Die extravagante Mütze und der feingeistige Gesichtsausdruck passen nicht zu einem Arbeiterdenkmal. Ist es Heinzelmännchen, das seinen fleißigen Zeiten nachtrauert, als es noch selbst den Hammer schwang?

Einer zwingenden These der verdienstvollen Heimatkunde-Internetseite www.flanieren-in-berlin.de nach handelt es sich bei dem Männchen um niemand Geringeren als den Maler Adolph Menzel (1815-1905). Die Autoren haben auch ein passendes Zitat von dem Theaterkritiker Alfred Kerr zur Hand: „Menzel hat die Erscheinung eines Gnomen. Er scheint vorübergehend aus irgendeiner Bergspalte gekrochen zu sein. Er blickt streng; oder zumindest sehr fest; manchmal humoristisch. Der Kopf mit dem gewölbten, kahlen Oberbau und dem weißen Halsbart ist meist leise gesenkt, aber die bebrillten Augen emporgeschlagen.“ Das muss er sein, der Maler des beginnenden Industriezeitalters!

Auch der Motor ist ein besonderer. Es dürfte sich um einen sogenannten Außenläufer handeln. Was das bedeutet, dazu befragen Sie am besten den Ingenieur Ihres Vertrauens. Erfunden hat diesen Motor der Maschinenbauer und Firmengründer Emil Ziehl, geboren 1873 in Brandenburg. Derselbe hat auch diese Reklame-Vignette entworfen. Es gibt das Motiv auch als lustiges Plakat. Der künstlerische Industrielle Ziehl erweist dem Künstler der industriellen Revolution seine Reverenz. Wer kennt sie nicht, die Menzel’schen Walzwerk-Gemälde, auf denen man die Glut und die Wut der entfesselten Maschinen spüren kann? Auf dem Ziehl’schen Relief hat der Fortschritt in geordnete Bahnen gefunden − statt Dampfgetöse und Kohlenbrand schnurrt hier ein Elektromotor vor sich hin und versetzt den nur noch mäßig interessierten Industriemaler in missmutig meditative Zustände.

Ein Blick in die Firmenchronik liefert den Hintergrund. Die fein gearbeitete „Freihandzeichnung“ eines Mädchens mit Katze nimmt eine prominente Stelle im Gründungsmythos ein. Der junge Emil hat sie angefertigt, sein Lehrer eilte damit zum Vater, um diesen von Emils künstlerischer Begabung zu überzeugen. Dieser müsse eine künstlerische Laufbahn einschlagen, statt in die väterliche Wagen- und Hufschmiede einzutreten. Tatsächlich ermöglichte der Vater dem Sohn den Besuch der Rackow’schen Zeichenschule in Brandenburg.

Die technische Begabung Emils setzte sich durch, er ging nach Berlin, studierte Maschinenbau, begann seine rasante Karriere als Konstrukteur, entwickelte irgendwelche mehr oder minder bahnbrechenden elektrotechnischen Geräte, unter anderem auch einen elektrisch betriebenen Kreisel mit kardanischer Aufhängung, was Ihnen vielleicht nichts sagt, aber das Interesse der kaiserlichen Marine weckte, die ihm zu Testzwecken ein Torpedoboot zur Verfügung stellte.

1909 hatte Emil Ziehl mit Patenten so viel Geld verdient, dass er die Roland-Werke in Weißensee kaufen konnte, am 2. Januar 1910 gründete er hier das Unternehmen Ziehl-Abegg. Die Ziehl’schen Entwicklungen und zertifizierten Qualitätsprodukte − irgendwelche Umformer, Aggregate, Gleichstrom-Dynamos und Zentrifugalpumpen − kamen unter anderem in den Zeppelin-Luftschiffen zum Einsatz. Mit dem Tod von Emil 1939 ging das Werk an die Söhne, wurde im Krieg bombardiert und danach demontiert. Die Zeichnungen konnten gerettet und in den Westen geschmuggelt werden. Heute sitzt das Ziehl-Abegg-Unternehmen in Künzelsau bei Stuttgart, 3900 Mitarbeiter erwirtschaften einen jährlichen Umsatz von über einer halben Milliarde Euro.

Was das Abegg im Firmennamen bedeutet? Das ist der Nachname des Schweden Eduard Abegg, der zusammen mit Emil Ziehl die Firma aus der Taufe hob, aber noch im Gründungsjahr ausstieg. Aus Kostengründen behielt man das bereits verbreitete Ziehl-Abegg-Firmenlogo einfach bei: Ein Blitz-Z auf einem Berg-A. Gezeichnet hatte es Emil Ziehl. Abegg war die versprochenen Finanzen schuldig geblieben, weil seine eigenen Entwicklungen nicht lukrativ waren. Er hatte sich mit Windkraftanlagen beschäftigt. Zu früh.