Gespräch mit dem Islamismus-Experten Olivier Roy: Der islamistische Terror ist wie die RAF
Die Attentäter sollen perfekt Französisch gesprochen haben. Was können Sie über das kulturelle Umfeld dieser Menschen sagen?
Sie sind Franzosen. Sie wurden in Frankreich geboren und im französischen Schulsystem ausgebildet. Sie gehören zur zweiten Generation der Immigranten, sind aber nichtsdestoweniger Franzosen. Die meisten von diesen Menschen mit arabischem Ursprung sprechen besser Französisch als Arabisch. Die Einwanderer sind in ihrem Selbstverständnis ohnedies längst Franzosen.
Haben solche radikalen Islamisten einen starken Bezug zur Religion des Islam oder folgen sie einer eigenen Ideologie?
Es handelt sich um eine Art wiedergeborene Muslime. Die meisten wissen gar nicht so genau, was die Scharia ist. Alle Untersuchungen zeigen, dass diese Muslime im Alter von 18, 20 Jahren kaum religiös sind, sondern Alkohol trinken, Rauchen, Drogen nehmen oder damit handeln. Sie erfahren erst dann eine Rückkehr zur Religion meist im Rahmen einer kleinen Gruppe. Im Fall eines der Attentäter war es ein selbst ernannter Imam, der ihn zur Religion, zum Salafismus zurückführte.
Der Salafismus zieht besonders junge Leute vom Rand der Gesellschaft an?
Ja, und das ist ein sehr allgemeines Muster, das sich nicht nur in Frankreich, sondern auch in den USA, Großbritannien oder anderswo findet. Die Radikalisierung dieser Menschen fußt darauf, dass sie erst von jemandem zum Islam zurückgeführt werden müssen. Die Tradition des Islam oder der Elterngeneration hat für sie keine Bedeutung. Sie haben ihre eigene Ausdrucksweise, einen eigenen Dresscode, es ist eine Einstellung, eine Art Kult. Die salafistischen Gruppen haben Zulauf in den sozial schwachen Gebieten.
Diese radikalen Islamisten vergleichen Sie mit westlichen Terrorgruppen wie der RAF. Warum?
Sie suchen den Dschihad, wie man früher den Guerilla-Kampf für Che Guevara oder für Palästina gesucht hat. Es gibt viele übereinstimmende Punkte zwischen den französischen Attentätern und den Terrorgruppen der 70er-Jahre wie Baader-Meinhof. Es gibt einen arabischen Einfluss und eine Gruppe von Intellektuellen, welche die spezifisch eigene Ideologie konstruieren und der Ordnung des Establishment den Krieg erklären. Für Baader-Meinhof war es die globale Revolution, für diese jungen Leute ist es der globale Dschihad. Sie verfolgen hierbei, in einer extremeren Variante, denselben Ansatz: Sie suchen gezielt Menschen für Hinrichtungen aus und suchen den Kontakt zum Dschihad anderer revolutionärer Bewegungen, so wie damals die Baader-Meinhof-Bande mit den palästinensischen radikalen Gruppen kooperierte, als sie versuchte, die palästinensische Revolution zu unterstützen. Nun gehen radikale Muslime nach Afghanistan, Bosnien oder den Irak, um den globalen Dschihad zu unterstützen.
Erwächst daraus für Deutschland und Frankreich eine Gefahr, dass viele dieser radikalen Muslime in Syrien oder dem Irak kämpfen?
Es stellt in der Tat ein Sicherheitsproblem dar. Sie lernen in diesen Ländern, wie sie kämpfen müssen, wie sie Waffen gebrauchen und wie sie töten müssen. Der Unterschied jedoch zwischen Al Kaida und dem Islamischen Staat (IS) ist, dass die Kämpfer von Al Kaida dorthin gehen, um zu trainieren und dann in den Westen zurückgeschickt zu werden. Für Al Kaida ist der Westen das Schlachtfeld. Für IS ist hingegen der Nahe Osten der Kriegsschauplatz.
Gibt es in Frankreich und Deutschland viele potenzielle Terroristen?
In Frankreich sind es gewiss einige Hunderte.
Wenn Menschen in der Öffentlichkeit das Feuer eröffnen, um so viele wie möglich zu töten, sind sie von Gewalt fasziniert. Was sind die Gründe für diesen Blutdurst?
Diese Menschen leben in einer Kultur der Gewalt. Das hat auch einen Grund in gewaltverherrlichenden Videospielen und Filmen: ein Unterschied zu der Zeit von Baader-Meinhof. Wir leben in einer Populärkultur der Gewalt. Das hat wenig mit dem Islam zu tun, sondern ist ein globales Phänomen. In Mexiko gibt es diese Gewalt ebenso wie in den USA die Gewalt der Jungen an der Columbine High School, die versuchten, so viele wie möglich zu töten.
Sie vergleichen die Attacken in Frankreich mit der Attacke der Schüler in den USA von 1999?
Was ich sagen will, ist, dass wir die Jugend in einer Gewaltkultur aufwachsen lassen, die sie dazu bringt, zum Massenmörder zu werden. Sie filmen den Mord, das Sterben usw. Das ist ein öffentliches Muster von Gewalt, die gewöhnlich mit dem Tod der Killer endet, weil sie suizidal agieren. Genauso wie die Mörder der Mitarbeiter von Charlie Hebdo. Man kann zwar überall lesen, dass sie professionelle Killer waren, was nicht stimmt. Sie fuhren zur falschen Adresse, sie vergaßen den Personalausweis im Auto. Die waren nicht professionell.
Der Islam ist also eine Art unterlegter Text für die Handlung?
Er dient als Grund. Wir haben eine Kultur der Gewalt, und die radikalen Muslime suchen im Islam einen Grund für Gewaltakte in Form des globalen Dschihad. Sie übernehmen dabei eine muslimisch-islamische Imagination, etwa wenn sie das Kalifat wieder errichten wollen. Es ist das Bild einer Eroberung der Welt. Das ist etwas, was man besonders in Videospielen findet. Ein Mix aus einer extremen Moderne und traditioneller Elemente wie dem Kalifat.
Welche Rolle spielen die Mohammed-Karikaturen für das Morden der Attentäter?
Sie haben einen Anlass für die Gewalt gesucht. Und sie wussten sehr genau, dass ihr Angriff auf Charlie Hebdo sie in die Schlagzeilen bringen würde. Die Ziele mussten nur eine hohe Symbolkraft haben. Möglicherweise, auch wenn ich dies nicht ganz sicher sagen kann, wollten sie auch die Sympathie muslimischer Gläubiger gewinnen. Auch wenn sie wissen, dass die meisten Muslime immer eine solche terroristische Aktion ablehnen würden.
Wie bewerten Sie die französische muslimische Gemeinschaft? Sie schrieben in ihren Büchern, dass die Muslime bereits sehr verwestlicht sind.
Es ist keine Gemeinschaft. Wenn man von einer Gemeinschaft spricht, besitzt man etwa ein Netzwerk muslimischer Schulen. Das gibt es hier aber nicht. Es gibt große Netzwerke jüdischer Schulen, katholischer Schulen, aber nicht muslimischer Schulen. Die übliche Struktur existiert also nicht. Keine der Organisationen ist repräsentativ für die Muslime als solche. Nicht der Glaube, sondern die Herkunft ist das verbindende Element.
Nun sagen viele, der Islam sei eine schwierige Religion, weil er das zivile und religiöse Recht nicht scharf trennt.
Das ist kein spezifisch islamischer Tatbestand. Der Islam wird so vielfältig interpretiert wie es Muslime gibt. Die meisten kümmern sich nicht einmal darum, was der Islam sagt und lehrt. Die Auseinandersetzung mit der Scharia, dem islamischen Recht, existiert in diesem Sinne gar nicht. Klar, es gibt Gruppen wie die Salafisten, die jeden Tag darüber debattieren, was der Koran ihnen sagen will. Aber den meisten ist es relativ egal. Vor allem die Attentäter kümmern sich am allerwenigsten um das islamische Recht. Sie sprechen niemals davon.
Wie lange wird der IS noch im Irak und Syrien existieren?
Er ist kein langfristiges Phänomen. Der IS konnte sich ja überhaupt nur wegen des Kollaps zweier Staaten so ausbreiten und weil die sunnitische Bevölkerung im Irak extrem frustriert war wegen der schiitischen Dominanz in ihrem Land. Die Sunniten kämpfen nicht für die Scharia, sondern um Rache zu nehmen und um ihre Gesellschaft wieder zu errichten. Nun erlegt der IS ihnen eine ausländische Struktur auf, wie in Kirkuk. Ihre Leute kommen aus Pakistan, Usbekistan und so weiter. Früher oder später erhöhen sich die Spannungen. Die Stämme jedoch wollen nicht einfach den Job des IS machen. Der IS ist limitiert in seinen Möglichkeiten, die Kurden sind nun in der Lage, ihm Paroli zu bieten. Der IS wird früher oder später geschlagen werden.
Das Gespräch führte Michael Hesse.