Gilda Sahebi: „Alle Beteiligten wissen, dass sie Unschuldige hinrichten“

489 Tote listet Gilda Sahebis Buch „Unser Schwert ist Liebe“ auf. Es erzählt aber vom Leben – und vom Kampf der Frauen im Iran. 

Die Autorin Gilda Sahebi vor unserem Gespräch in Berlin-Schöneberg
Die Autorin Gilda Sahebi vor unserem Gespräch in Berlin-SchönebergMarkus Wächter/Berliner Zeitung

Es ist ein Buch der Namen, sagt Gilda Sahebi am Anfang von „Unser Schwert ist Liebe“, ihrem Buch über die Frauen im Iran, das am 8. März erscheint. Es erzählt die Geschichten von Menschen, die nichts weiter wollen als demokratische Grundrechte, von Menschen, die mit Gefängnisstrafen, Folter, mit dem Tod belegt werden. Wir sprachen mit Gilda Sahebi, die in Berlin lebt, über das hochaktuelle Buch und ihre Sicht auf die Rolle Deutschlands.

Gilda Sahebi, bei vielen politischen Sachbüchern habe ich das Gefühl, bei Erscheinen sind sie schon überholt. Ihr Buch aber wirkt, als hätten Sie es eben aus der Hand gegeben. Bis wann haben Sie daran gearbeitet?

Bis Anfang Januar. Die Liste der Todesopfer am Ende des Buches beginnt mit Jina Mahsa Amini am 16. September 2022, sie hört mit dem 489. Toten am 7. Januar 2023 auf. Anders als der Roman, an dem ich schon etwa ein Jahr sitze und noch weiterarbeite, ist dieses Buch sehr schnell entstanden, in vier Wochen. Es enthält auch einige Texte, die ich zuvor geschrieben habe.

Beim Lesen habe ich manchmal gedacht, dass es mir zu viele Namen sind. Dann erschrak ich, weil es ja gerade zeigt, wie breit die Proteste sind. Nur vier Mal merken Sie an, dass Sie für jemand ein Pseudonym verwenden, warum?

In diesen Fällen war der Schutz der Anonymität wichtig. Aber eben nur diese vier wollten das so. Die Anwältin Nasrin Sotoudeh zum Beispiel hat, obwohl sie gerade im Hafturlaub war, mit mir offen per Videocall über das Unrechtssystem gesprochen, das vor allem Frauen trifft, die extreme Ungleichbehandlung. Sie ist einer der beeindruckendsten Menschen, die ich kenne. 2020 bekam sie den Alternativen Nobelpreis für ihren Einsatz für die Menschenrechte.

Sie waren drei Jahre alt, als Sie mit Ihrer Mutter nach Deutschland kamen, wo Ihr Vater bereits im Exil lebte, mit sieben und mit 14 Jahren waren Sie die beiden letzten Male zu Besuch im Iran. Sie schildern eine Szene, in der ein uniformierter Mann Sie anherrschte, Sie würden das Kopftuch nicht richtig tragen und Ihre Tante Sie unter Entschuldigungen aus der Situation rettete. Das liest sich gespenstisch, weil man an die 22-jährige Jina Mahsa Amini denken muss, die ja auch nur das Kopftuch nicht „richtig“ getragen hatte und dann auf der Polizeistation starb.

Das ist genau der Punkt, warum ihr Tod so viel Wut erzeugt hat. Denn es ist praktisch jeder Frau im Iran schon passiert, dass sie die Macht der Sittenwächter zu spüren bekam. Jina Mahsa Amini hat nichts gerufen, nicht demonstriert, sie war einfach nur auf der Straße. Die Frauen im Iran haben das Gefühl: Das hätte ich sein können. Sie werden kriminalisiert.

Als Journalistin haben Sie zu Gesundheitspolitik und anderen Themen gearbeitet, nun aber beschäftigen Sie sich konzentriert mit dem Land Ihrer Geburt. Wie ist das für Sie?

Es fühlt sich richtig an, alternativlos. Das ist meine bewusste Entscheidung.

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Markus Wächter/Berliner Zeitung
Zur Person und zum Buch
Gilda Sahebi, im Iran geboren und in Deutschland aufgewachsen, ist ausgebildete Ärztin und Politikwissenschaftlerin. Sie arbeitet als freie Journalistin zu Rassismus, Frauenrechten und Wissenschaft. Der Focus ernannte sie 2022 zu einer der „100 Frauen des Jahres“, das Medium Magazin zur Journalistin des Jahres in der Rubrik Politik. Gilda Sahebi lebt in Berlin.

Das Buch: „Unser Schwert ist Liebe. Die feministische Revolte im Iran.“ S. Fischer, Frankfurt a. M. 2023. 256 Seiten, 24 Euro

Sie erklären in dem Buch, das von so vielen erschossenen oder in der Haft umgekommenen Menschen erzählt, dass die Todesurteile eine andere Qualität haben als diese willkürlichen Morde. Warum?

Das wollte ich bewusst machen: Es werden Anklagen erhoben, Urteile gesprochen, Papiere unterzeichnet, die Tötung durchgeführt. So viele Menschen sind involviert, die alle wissen, dass sie Unschuldige hinrichten. Am 8. und am 12. Dezember wurden die ersten beiden Hinrichtungen vollzogen. Das hat mich schwer und anhaltend erschüttert.

Wie sehen Sie die Rolle der deutschen Politik im Moment? Müsste sie entschiedener auftreten?

Müsste sie, ja. Die deutsche Bundesregierung und auch die EU, weil die auswärtige Politik ja gemeinschaftlich sein soll. Das jüngste Verbrechen ist die Vergiftung von Schulmädchen. Der CNN-Bericht, die Recherchen des Reporternetzwerks der Süddeutschen Zeitung und viele mehr haben aufgedeckt, wie die sexualisierte Gewalt aussieht, wie die Folter aussieht, wir wissen das alles. Die Bundesregierung erklärt immer, sich für Frauenrechte und Menschenrechte in den Ländern einzusetzen, in denen es eine Bewegung dafür gibt, aber sie tut zu wenig.

Die Bewegung gibt es.

Aber keine adäquate Antwort.

Was wäre eine adäquate Antwort?

Die Rhetorik ist inzwischen da, also dass man die Menschenrechtsverletzungen anprangert. Das hat Annalena Baerbock bei der Sondersitzung des UN-Menschenrechtsrats in Genf gemacht. Iran ist neben Nordkorea das meist sanktionierte Land der Welt. Wenn man sich die Sanktionen anschaut, dann treffen die vor allem die Bevölkerung, die bereits unter dem Regime leidet. Man sollte jedoch überlegen, wie man den Menschen helfen kann, indem man zum Beispiel Geld spendet, etwa für Streikkassen. Das ist nicht möglich, weil der Iran vom Swift-Abkommen ausgeschlossen ist. Die Sanktionen sind zu wenig gezielt. Die Liste, auf der Einzelpersonen und Organisationen stehen, wird alle paar Wochen um zwei Dutzend Leute erweitert, aber das bringt wenig. Das Regime ist eine Unterdrückungsmaschinerie, die besteht aus Tausenden von Menschen.

Im Herbst verbreiteten sich hierzulande Vorschläge, wie man Internetzugänge so teilen kann, dass sie im Iran Einzelpersonen zur Verfügung stehen. Sollte man das jetzt auch tun?

Im Moment gibt es im Iran wenige Beschränkungen in der Internetgeschwindigkeit. Man muss natürlich brisantes Material verschlüsselt senden, aber ich habe gerade ungehindert Kontakt. Wir sollten vorbereitet sein, wenn das Regime das Netz wieder drosselt. Denn das ist ja die größte Angst, die sie haben: dass die ganzen Verbrechen öffentlich werden.

Neben der Situation im Iran haben wir den furchtbaren Krieg gegen die Ukraine, das verheerende Erdbeben in der Türkei und in Syrien und im Mittelmeer sind gerade wieder Flüchtlinge ertrunken. Wie ist es möglich, in dieser Konkurrenz der schrecklichen Ereignisse den Kampf der Frauen im Iran nicht zu vergessen?

Ich glaube nicht, dass Aufmerksamkeit ein Kuchen ist, den man auseinanderschneidet. Man kann Aufmerksamkeit erzeugen, indem man die Zusammenhänge erklärt. Ich meine damit nicht nur, dass der Iran Drohnen an Russland liefert, die in der Ukraine eingesetzt werden. Die Menschen, die flüchten, die Menschen, deren Häuser aufgrund von Korruption nicht sicher gebaut waren, die Menschen, die in Syrien isoliert oder in die Flucht getrieben werden und jene, deren Territorium angegriffen wird, leiden unter autoritären Regierungen, unter menschenrechtsverachtenden Regimen. So verstärkt sich doch das Mitgefühl und fällt nicht auseinander.

Lassen Sie uns noch über den Titel „Unser Schwert ist Liebe“ sprechen. Man erfährt im Buch, dass er einem Song des Rappers Toomaj Salehi entstammt, der seit Oktober in Isfahan in Haft sitzt, der gefoltert wurde, dessen Schicksal ungewiss ist. Er macht auch sehr kritische Texte, nennt den Iran ein „Rattenloch“ oder „Kriegsschauplatz“. Warum haben Sie diese freundliche Zeile ausgewählt?

Toomaj Salehi vereint so viel, was ich auch an dem Land liebe. Da ist nicht nur der Widerstand, die Resilienz der Menschen jetzt, sondern auch die große Fürsorge der Menschen füreinander. Meinem Eindruck nach war der Iran immer laut und voll, aber zugleich warm, alle haben aufeinander geachtet. Deutschland erschien mir, zumindest in meiner kindlichen Wahrnehmung, viel kälter. Toomaj Salehi rappt und singt eine Vision von einem Iran der Gemeinschaft. Die erkenne ich zum Beispiel in dem Mut der Mütter, deren Töchter oder Söhne ermordet wurden, die rausgehen und sagen, dass sie in ihrer Trauer auch stolz sind: Mein Kind ist gestorben für die Freiheit der nächsten Generation.

Was halten Sie von dem Wort Revolution in Bezug auf die Vorgänge im Iran? Ist es richtig?

Ich würde sagen, es ist ein revolutionärer Prozess. Der hat nicht im September 2022 begonnen. Die Bewegung jetzt setzt die Proteste gegen das Regime von 2017 und 2019 fort. Damals sind viele Hundert Menschen getötet worden, auch Minderjährige, spätestens da ist dieser Prozess in Gang gekommen. Ich weiß nicht, wie lange er dauert, aber er ist unaufhaltsam.

Heißt das auch, dass wir in Europa schon damals viel genauer hätten hinschauen sollen?

Ja. Und hier können wir auch den Vergleich zur Ukraine ziehen. Russland annektierte 2014 die Krim, Europa antwortete mit Sanktionen. 2015 begann Putin Syrien zu bombardieren, darauf gab es praktisch keine Reaktion. Man hat danach Nord Stream 2 weitergebaut. Das war im besten Falle naiv. 2019 hat der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ein Glückwunschtelegramm an den iranischen Präsidenten zum 40. Jahrestag der Revolution geschickt. Die einzige irgendwie kritische Reaktion zu den Massakern im November 2019 war ein Statement des damaligen Außenministers Heiko Maas, man solle die unverhältnismäßige Gewalt einstellen.

Glauben Sie, dass es den Menschen im Iran hilft, wenn hierzulande demonstriert wird?

Auf jeden Fall, weil es Aufmerksamkeit für ihre Situation erzeugt. In den ersten Tagen nach Jina Mahsa Aminis Tod haben weder Annalena Baerbock noch Olaf Scholz reagiert. Das änderte sich mit den ersten öffentlichen Protesten hier.