Giro d'Italia: Am 04. Mai startet das Etappenrennen zu Ehren von Gino Bartali
Das Kamerateam hat ihn im Esszimmer vor einem Fernseher platziert. Gino Bartali sitzt aufrecht, das gelbe Polohemd glattgezogen, die Hände ruhen im Schoß. Es ist der 14. Juli 1993. Auf der Mattscheibe läuft Radsport, eine Etappe in den Alpen, hinauf zu den Gipfeln der Tour de France, die Bartali auch schon emporgestrampelt ist, in den Dreißigern, Vierzigern, Fünfzigern. Davon erzählt er dann, er spricht in die Kamera: vom Col du Galibier, dem Izoard, dem Télégraphe, Marken auf Bartalis Weg in die Unsterblichkeit. Die Italiener nennen ihn: l’Intramontabile. Der Unvergängliche.
Bartalis Stimme klingt derart rau, dass der Zuhörer sich unweigerlich räuspern möchte. Doch er erzählt mit Ausdauer. Von seinen Tour-Siegen 1938 und 1948. Vom Gewinn des Giro d’Italia 1936, 1937 und 1938. Von Mannschaftskameraden, auf die er aus taktischen Gründen gewartet hat, von Attacken, die sie gemeinsam fuhren. Er redet und redet.
Gino Bartali ist alles andere als ein verschlossener Charakter gewesen. Doch das größte Geheimnis seines Lebens hat er im Mai 2000 mit ins Grab genommen. Es machte ihn erst im Nachhinein zu einem Unvergänglichen, wahrhaft Unsterblichen, durch Zeugenaussagen und historische Dokumente: Gino Bartali, 1914 im toskanischen Örtchen Ponte a Ema geboren, hat im faschistischen Italien geholfen, Hunderten Juden das Leben zu retten.
Bartalis Rad war ein trojanisches Pferd
„Tue Gutes und sprich nicht darüber.“ Diesen Satz hat Gino Bartali in Variationen immer wieder geäußert. Schwer zu sagen also, wie er es fände, dass am kommenden Freitag der Giro d’Italia zu seinen Ehren in Jerusalem startet. Dass die dreiwöchige Rundfahrt unter Berufung auf seinen Heldenmut die 3600 Kilometer lange Reise in Angriff nimmt; fünf Jahre, nachdem der Staat Israel Gino Bartali bereits als „Gerechten unter den Völkern“ ehrte, ihn in eine Reihe stellte mit Oskar Schindler, Berthold Beitz oder Elisabeth Abegg.
Würde er sich nun wie ein Werbevehikel für eine kommerzielle Sportveranstaltung vorkommen? Hätte sich Bartali am vergangenen Sonntag darüber gewundert, dass ihn Israel posthum und mit Sinn fürs richtige Timing zum Ehrenbürger ernannte? Würde er sich für politische Zwecke missbraucht fühlen? Oder dächte er darüber in anderen Kategorien, in Maßstäben, die ihm sein katholischer Glaube seit jeher diktierte? Jener tief verwurzelte Glaube, der ihn in die Situation brachte, zu helfen.
Es war im Winter 1943, als zu Hause bei Gino Bartali das Telefon klingelte. Am anderen Ende der Leitung meldete sich Erzbischof Elia Kardinal Dalla Costa. Die beiden kannten sich gut, wussten auch, dass ihr Gespräch wahrscheinlich abgehört wurde, und verabredeten sich deshalb kurz und knapp noch für denselben Abend. Bartali legte auf, zog sich an und radelte los. Im Dom Santa Maria del Fiore angekommen, fragte ihn der Bischof ohne lange Vorrede, ob er sich vorstellen könne, als Kurier zu arbeiten.
Rund 5000 Juden lebten in der Toskana, etliche versteckten sich im Franziskanerkloster von Assisi. Niemand wusste, wie lange sie noch unentdeckt bleiben würden. Um sich in den Süden abzusetzen, benötigten sie Papiere, gefälschte Ausweise, die sich nicht einfach in einer Aktentasche transportieren ließen. In der Gegend wimmelte es von Soldaten. Es gab überall Kontrollposten. Der Erzbischof und seine Leute brauchten eine Tarnung. Bartali war ihr Mann und sein Rad ein trojanisches Pferd.
"Ich gehe trainieren"
Zusammengerollt im Sattelrohr verstaute er seine lebensrettende Fracht, manchmal in den Handgriffen. Kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, einen Giro-Sieger anzuhalten, einen Volkshelden zu kontrollieren, zu belästigen. Selbst einem unsportlichen Gemüt leuchtete ein, dass ein Campionissimo wie Bartali trainieren musste. Zumal der Krieg inzwischen eine klare Richtung nahm, sein Ende nur eine Frage der Zeit zu sein schien. Irgendwann würde Frieden herrschen, würde Bartali wieder Rennen fahren, zum Ruhme Italiens. Da wollte man nicht im Wege stehen.
Nur einmal kam ein Posten auf den Einfall, sich Bartalis Rad genauer anzuschauen. Doch der argumentierte so lange, dass am Ende jede Schraube, jedes noch so kleine Teil an seinem Platz blieb. Bartalis Wort allein genügte auch seiner Ehefrau, die davon ausging, dass der Gatte der Fitness wegen ausfuhr. Dass dies manchmal nachts geschah, erschien ihr offenbar nicht ungewöhnlich. Selten hakte sie nach, an einem Abend etwa, als sich Bartali mit den Worten verabschiedete: „Wenn sie mich suchen kommen, sag ihnen, ich sei losgegangen, um Medizin für Andrea zu besorgen, der ist krank.“ Für den dreijährigen Sohn, der sich allerdings bester Gesundheit erfreute. Auf die Frage, wohin er denn wirklich gehe, antwortete Bartali: „Ich gehe trainieren.“
Das war nicht einmal gelogen. Bartali fuhr Passfotos von Assisi nach Florenz und Ausweise von Florenz nach Assisi. „Das sind 320, 360 Kilometer. Um das zu schaffen, musste man ein Champion sein“, hat sein Sohn 2012 im Deutschlandfunk erzählt. Andrea Bartali starb im Juni vergangenen Jahres.
Bis zu drei Tage unterwegs
Die meisten derer, die Bartali zu retten half, leben inzwischen nicht mehr. Die Kinder jener Tage sind heute hochbetagte Senioren. Shlomo Pas kam 1941 als Neunjähriger mit seiner Familie aus Kroatien in die Toskana. Er hieß damals noch Giorgio Goldberg. Die Lage der Juden in Mussolinis faschistischem Italien verschärfte sich von Tag zu Tag. Als 1943 die deutsche Wehrmacht einmarschierte, musste Giorgio Goldberg schließlich in einem Kloster untertauchen, doch auch dort wurde es immer gefährlicher.
Zum Glück kannten die Goldbergs Armando Rizzi, der wiederum der Schwager von Gino Bartali war, und so zogen Giorgio und Schwester Tea mit Vater und Mutter in den Keller eines bekannten Tour-Siegers. Sie blieben dort länger als ein Jahr, bis die britische Armee Florenz befreite. Gino Bartali sahen die Goldbergs in dieser Zeit allerdings nicht allzu oft, vielleicht insgesamt zehnmal.
Der Rennfahrer im einstweiligen Ruhestand war sehr beschäftigt. Als Kurier, aber auch als Kundschafter, der Stellungen und Truppenbewegungen der Deutschen beobachtete. „Er war manchmal auch zwei, drei Tage unterwegs“, hat Sohn Andrea erzählt. „Da wurde er auch beschossen, bombardiert.“ Einmal rettete sich Bartali mit einem Sprung in einen Graben. Gülle schwamm darin. „Und als er nach Hause kam, hat ihn meine Mutter nicht reingelassen. Er musste sich draußen ausziehen und sich erst mal waschen.“
Gino Bartali, l’Intramontabile, einer, den scheinbar nichts aufhält, kein Güllegraben, kein neugieriger Wachtposten, nicht einmal ein Weltkrieg. Bevor die Öffentlichkeit von seinem Widerstand erfuhr, schwang im Ehrentitel des Unvergänglichen noch ein wenig Tragik mit. Nach seinem Tour-Sieg 1938 galt Bartali als jemand, der das prominenteste und schwerste Radrennen des Planeten in Serie gewinnen kann. Bei seinem zweiten Erfolg zehn Jahre später war er bereits 34, war il vecchio, der Alte, aber immerhin noch robust. Ein schwerer Sturz deformierte seine Nase. Bartali fuhr weiter, er bekam ja noch Luft. Die Puste soll sogar für eine Packung Gauloises pro Nacht gereicht haben. Auch der geliebte Chianti fehlte nicht, gehörte ganz selbstverständlich zum Proviant auf der Rennmaschine. Wie die sogenannte Bombe. Bartali selbst hat freimütig von jenem explosiven Aufputschmittel erzählt, das seinerzeit unter Profis wegen der beschleunigenden Wirkung sehr beliebt gewesen sein soll.
Ein Foto als Ikone der Fairness
Ginetaccio, der schreckliche Gino, auch so riefen ihn die Fans, weil Bartali die steilsten Rampen hinaufstampfte. Weil er keinem Duell aus dem Weg ging. Weil er den Stoff lieferte, von dem eine Erzählung wie die Tour de France mit ihren Freilichtbühnen in den Alpen und Pyrenäen lebt. Legendär sind Gino Bartalis Scharmützel mit dem fünf Jahre jüngeren Fausto Coppi, auch er ein Italiener, auch er vom Krieg um Jahre seiner Karriere gebracht.
Der Fotograf Carlo Martini hat ein mehrfach preisgekröntes Foto von den beiden Konkurrenten gemacht, 1952 auf der Tour-Etappe hinauf zum Col du Galibier. Coppi, der spätere Gesamtsieger, fährt im Gelben Trikot voraus, den rechten Arm nach hinten gestreckt. Bartali, am Ende Vierter, reicht dem Rivalen eine Trinkflasche. Vielleicht nimmt er sie auch an. So genau zu erkennen ist das nicht. Vielleicht trug sich die Szene sogar schon am Vortag zu. Sie sei dann fürs Foto nachgestellt worden, behauptete jedenfalls der Chef von Martinis Agentur später einmal. Bartali und Coppi seien damit einverstanden gewesen. Gesprochen haben die beiden darüber nicht allzu viel.
Bis heute gilt dieses Foto als Ikone der Fairness im erbitterten sportlichen Zweikampf. Dabei sahen sich Gino Bartali und Fausto Coppi nie als Feinde. Das störte jedoch diejenigen wenig, die ein Radrennen zu vermarkten hatten und dazu den volksgläubigen Christen mit Hang zum Genuss gegen den asketischen Helden der Arbeit stellten. Möglicherweise hat Bartali auch deshalb nie etwas über seine Zeit im Widerstand erzählt: Er wusste zwar, seine Prominenz nutzbringend einzusetzen, wusste aber auch um die Gefahr, als Prominenter vereinnahmt zu werden.
Es gibt einen Werbefilm in Schwarz-Weiß. Vermutlich eine frühe Sünde der beiden Radprofis. Es geht darin um Brühwürfel. Der Ton ist sehr schlecht, doch dass sie streiten, kann jeder hören. Ein knisterndes Wort gibt das andere, bis eine Terrine auf den Tisch kommt. Am Ende löffeln Gino Bartali und Fausto Coppi die Suppe gemeinsam aus.